Die geschwollene Lippe und der fingernagellange Riss unter dem rechten Auge seines großen Bruders waren nicht das, was den Jungen beunruhigte, als er den Schlüssel der Wohnungstür nach links drehte, die Tür einen Spaltbreit öffnete und Alex im gleißenden Licht des Flurs von einem Bein auf das andere treten sah.
»Mach auf«, sagte sein großer Bruder im Treppenhaus vor der Wohnungstür.
»Wie siehst ’n du aus?«
»Mach jetzt auf, Arschloch.«
Die Türkette war noch eingehakt. Das Weiß in Alexʼ Auge war blutunterlaufen, die Hände hatte er im blau-gelben Kapuzenpulli.
»Hast’ dich geklopft oder was?«, sagte der Junge, aber kaum hatte er ausgesprochen, kniff sein großer Bruder die Lippen zusammen und zischte: »Wenn du jetzt nicht aufmachst, dann –«
Er schloss die Tür, hakte die Kette aus, und als er den Griff wieder nach unten drückte, schob sich Alex schon an ihm vorbei.
»Mama is’ noch nich’ daheim«, sagte der Junge, aber da war Alex bereits um die Ecke in den Gang gebogen.
Sein großer Bruder stand vor der geöffneten Kühlschranktür und trank Multivitaminsaft aus einer der Zwei-Liter-PET-Flaschen, die Kapuze halb über den Kopf gezogen.
»Mama is’ noch nich’ daheim«, sagte er noch mal, sah Alex einige Sekunden lang beim Trinken zu und lehnte sich dann gegen die Wand.
»Weiß ich doch«, sagte sein großer Bruder, stellte die Flasche zurück in die Kühlschranktür, bückte sich und schob Lebensmittel in den Fächern hin und her. Drüben lief noch der Fernseher. Um diese Uhrzeit lief auf keinem Sender etwas, das ihn interessierte. Keine Trickserie und kein Animationsfilm, aber ihm fiel nichts anderes ein, was er ansonsten tun könnte. Früher hatten sie zusammen Playstation gespielt oder waren Gassi mit dem Hund gegangen. Es war seltsam, an den Hund zu denken.
Sein Bruder schloss die Kühlschranktür und riss mit den Zähnen die Plastikfolie von einer Scheibe Sandwich-Käse. Er hatte einen Bart bekommen; seltsam, seinen Bruder mit Bart zu sehen. Er hatte strohblondes Haar und einen rot-blonden, fleckigen Bartwuchs.
»Bist gewachsen, Kurzer«, sagte sein Bruder, biss in den Käse und grinste jetzt kurz. »Rainer wohnt noch hier?«
»M-mhm«, machte der Junge und fuhr sich durch die Haare. »Schon lang’ nich’ mehr. Mama is’ noch auf Arbeit«, sagte er.
»Weiß ich doch«, sagte sein großer Bruder, kam grinsend rüber zu ihm und tätschelte ihn gegen die Wange. »Kleiner Papagei, wadde?«
»Lass mich«, sagte er und drehte den Kopf beiseite.
»Oh-oh«, machte sein großer Bruder, ging einen Schritt zurück, kaute noch und hob beide Hände hoch. »Machst jetzt auf Harten oder was?« Er lachte, biss noch mal in den Käse und schüttelte schließlich den Kopf. »Komm«, sagte er, »jetzt sei nich’ gleich so ’ne Pussy.«
Sie waren früher oft mit dem Hund draußen gewesen, am Weiher gleich hinter dem Radweg bei den Tankstellen; Hektor, ihr schwarzer Dobermann. Wer hatte ihn noch gleich mitgebracht? Sein Bruder erzählte den Mädchen dort unten immer, Hektor sei ein ehemaliger Polizeihund. Er könne Drogen auf fünfhundert Meter riechen und sei suspendiert worden, weil er einem Unschuldigen das Gesicht vom Schädel gezogen hätte. Entweder kreischten die Mädchen angeekelt oder sie lachten wie Irre. Sie trugen enge, ausgewaschene Jeans, Bauchfrei, schmierten sich Lipgloss auf die Lippen und hielten Pall Malls oder Marlboros in ihren Händen, dort am Radweg hinter den Tankstellen, die kleine, bewachsene Klippe runter, »am Ufer«, wie sie es nannten, direkt in einer Böschung am Weiher. Der Dobermann war ein nervöser Hund, groß, sehnig, zu zweit konnten sie ihn kaum halten, wenn sie einen anderen Hund in weiter Ferne sahen. Der Dobermann hasste Menschenmengen. Den Wortlaut hatte der Junge im Ohr behalten: Wie sie die Böschung herunterkletterten, den Dobermann an der Leine, und sein Bruder diebisch grinsend sagte: »Er hasst Menschen.« Wenn ihre Mutter sie mit dem Hund rausschickte, gingen sie immer runter zum Ufer. Sie durchquerten die Siedlung, vorbei an Edeka und dem Behinderten-Heim, dann zehn Minuten die Landstraße entlang zu den Tankstellen, und dann beim Radweg zur Klippe und hinunter zwischen die Büsche und Bäume vor zum Wasser. Unten, im Geäst, drehte sich der Dobermann immer mit eingezogenem Schwanz im Kreis, jaulte und murrte, und der Junge saß neben ihm, in der Hocke oder auf einem der glitschigen Steine, mit der Leine in der Hand. Sein großer Bruder zehn, zwanzig Meter vor ihnen, »am Ufer«, mit den geschminkten Mädchen, den Zigaretten und den Energy-Drink-Dosen in den Händen. Ein paar Mal sah er seinen Bruder mit einem der Mädchen verschwinden, und als sie später wieder am Rand der Landstraße nach Hause liefen, rauchte sein Bruder ruhig lächelnd und sagte, wenn er tatsächlich mit ihm verwandt sei, würde er schon dahinter kommen, was dran wäre, an dieser Sache. Er sagte, ein Kerl würde nichts von der Welt verstehen, wenn er nicht auch etwas davon verstehen würde. Er sagte, es sei das Wichtigste und gleichzeitig das Unwichtigste, das es auf diesem verfickten Planeten gäbe, und wenn er tatsächlich mit ihm verwandt sei, würde er früher oder später verstehen, was er meine.
»Wo warst’n die ganze Zeit?«, sagte der Junge und steckte sich die Hände in die Hosentaschen, noch an der Küchenwand gelehnt. Oben links an der Decke, in der Ecke neben dem Tellerschrank und über dem Platz, an dem die Kaffeemaschine immer stand, war ein dunkler, grau-schwarzer Wasserfleck in die Tapete gezogen. Sein Bruder sah ihm in die Augen; es waren seine Augen, sein ausdrucksloser Blick. Die Stille, die ihn auf einmal durchfuhr und die sich zwischen sie stellte.
»In Reiterswiesen«, sagte er, »weißte doch.« Er aß die restliche Käsescheibe, dann leckte er sich schnell Zeigefinger und Daumen ab. »Komm«, sagte er und nickte in Richtung Wohnzimmer. »Lass lieber was fernsehen, solang’ ich noch da bin.«
»Aber die Mama kommt gleich«, sagte der Junge und sah auf die Digital-Anzeige seiner Armbanduhr.
»Wees ick, wees ick«, machte sein Bruder und fuchtelte mit der Hand Richtung Wohnzimmer.
Der Hund war mit einem Mann gegangen, der Jerôme hieß, aber nichts Französisches oder sonst Ausländisches an sich hatte. Er war ein weißer Deutscher, fast zwei Meter groß, mit rahmenloser Brille, halblangem, grau-schwarzem Haar und einer seltsamen Kerbe inmitten seiner linken Zeigefinger-Kuppe, die das Fleisch merkwürdig entzwei teilte. Als sie den Dobermann eines Tages zum Ufer führten, sagte Alex, es sähe aus wie ein Arsch. Er sagte: Fingerarsch, und sie hatten bis zum Ufer gelacht, und als er sich mit Hektor ins Geäst setzte und seinem großen Bruder weiter hinterher blickte, sah er ihn noch immer lachen. Später sagte sein großer Bruder, kleine Schlampen wie die am Weiher sollten ihre Fresse halten, wenn er lachen möchte. Er sagte, vor Schlampen sollte man nie zu viel lachen, weil sie dann das an einem verlören, was man vor einer Frau nie verlieren dürfe. Sie sagten Fingerarsch noch ein paar Mal, wenn Jerôme auf dem Sofa lag und fernsah, oder wenn sie alle am Klapptisch saßen und Toast-Hawaii oder einen der kleinen Kuchen von der Tankstelle aßen. Als Jerôme mit Hektor ein letztes Mal bei Fuß aus der Wohnungstür lief, drehte sich das Tier zu seinem Bruder und ihm um. Hektor lief zu ihnen und sie streichelten das Tier, und Alex ging in die Hocke, sah dem Hund grinsend in die Augen, fuhr über seine spitzen Ohren und sagte: »Er hasst Menschen.«
Es war eines der seltsamen, unausgesprochenen Dinge, die er zuerst aus der Erwachsenen-Welt seiner Mutter durchschaute: Dass immer er und Alex anwesend waren, wenn sie es den Männern sagte und wenn sie die Männer ihre Taschen und Koffer packen ließ. Er hatte noch ein paar Mal an den Dobermann gedacht, wenn er fernsah oder ziellos an der Landstraße auf und ab lief oder heimlich den Zaun am Behinderten-Heim hochkletterte und in eines der Fenster blickte. Aber schließlich verflüchtigte sich der Gedanke an das Tier, an sein Fell, an Fingerarsch und das schnappartige Jaulen, mit dem er sich immer im Kreis drehte und mit dem Kopf auf und ab wippte, dort unten, im Geäst beim Weiher.
~
Sie saßen auf der Couch und sahen Takeshi’s Castle, gleich danach zwei Folgen Relict Hunter.
»Gleich müsste sie kommen«, sagte sein kleiner Bruder und sah auf die Armbanduhr.
»Ich weiß«, sagte er. Er hatte die Flasche Multivitaminsaft mit herübergenommen und nippte an ihr. Er hatte seine Kapuze abgenommen, den Pullover geöffnet. Seine Lippe und seine rechte Wange schmerzten furchtbar. Ein drückender, pochender Schmerz, der Riss unter seinem Auge brannte, blieb aber trocken. Er sah zu seinem kleinen Bruder und nippte wieder am Flaschenhals, roch den schweren Geruch der Wohnung, sah das kleine Cupboard, auf dem gerahmte Fotografien und ein Kaffeeservice standen. Er war sich nie sicher gewesen, ob sie wirklich Brüder waren. Er war strohblond und hellhäutig, sein kleiner Bruder feuerrot, lockig und mit hunderten Sommersprossen von Kinn bis Stirn. Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Mutter jemals schwanger gesehen zu haben. Er erinnerte sich, schon als Kind darüber nachgedacht zu haben. Shaun war plötzlich da gewesen. Seine Mutter hatte einen Mann namens Alfer oder Alper kennengelernt, ein Albaner mit einem massiven, schwarzen Oberlippenbart und einer Halbglatze, über die er einzelne, lange Strähnen seines Seitenhaars kämmte. Alfer oder Alper saß abends stundenlang und oberkörperfrei mit der Lesebrille auf der Nasenspitze auf dem Sofa und spielte deutsche Gameboy-Spiele, von denen er kein Wort verstand. Alfer oder Alper war plötzlich mit seinen zwei Töchtern aufgetaucht, irgendwann im Hochsommer in seinem letzten Kindergarten-Jahr. Alfer holte ihn ein paar Mal vom Kindergarten ab, kochte gigantische, übersalzene Gerichte und war genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Das Nächste, an das sich Alex erinnerte, war sein Bruder, ein Kleinkind schon, ein, zwei Jahre alt, mit feuerrote Locken und Sommersprossen, auf dem Schoß seiner Mutter, als er von der Schule nach Hause kam, kein Jahr später.
Es war seltsam daran zu denken, wie es das erste Mal passiert war. Er nippte am Multivitaminsaft, lehnte sich zurück in die Polstergarnitur, sah auf den Fernseher und versuchte sich zu entspannen. Er sah rüber zu seinem Bruder, auf seine blaue, löchrige Jogginghose, die feuerroten Haare, die glubschigen, nervösen Kinderaugen. Shaun war jetzt vielleicht ein, zwei Jahre jünger als er damals gewesen war, als er das erste Mal von zu Hause abhaute – mit einem Mädchen namens Shanika, an das er sich nur noch schemenhaft erinnerte. Sie hatten zweimal miteinander geschlafen, als sie dachte, sie sei schwanger. Er hatte einfach seine Sachen gepackt. Er hatte einfach eine Plastiktasche voller Wäsche gepackt und war aus der Wohnung gegangen. Sein Bruder saß vor dem Fernseher und seine Mutter am Küchentisch, rauchend, mit der Lesebrille auf der Nase und eine ihrer Frauenzeitschriften vor sich ausgebreitet. Sie blickte kurz auf, sagte aber nichts. Er ging so, als ob er zum Weiher oder sonst wohin gehen würde. Er hatte zwei große Plastiktaschen mit Wäsche, Drahtzange und Taschenlampe bei sich. Vor der Sparkasse knackte er ein altes, lila Damenrad, dann fuhr er am Rand der Landstraße entlang bis zur Tankstelle. Shanika stand dort mit Sturzhelm und Sonnenbrille auf dem E-Bike ihres Vaters.
»So willst du abhauen?«, sagte er und lachte.
»Wenn ich schwanger bin«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.
Er hielt es zwei Tage mit ihr aus. Sie fuhren über Feld- und Fahrradwege, und nachts schliefen sie in einem Hochsitz. Am nächsten Morgen begann er, sauer auf etwas zu sein, von dem er nicht wusste, was es war. Sie aßen Sandwiches, die sie mitgebracht hatte, und danach sagte sie: »Ich liebe dich.«
Er wusste nicht, weswegen er wütend war. Es war in ihm aufgestiegen, so als ob es schon lange zu ihm gehören würde. Sie lehnte sich an seine Schulter, und es war seltsam, aber als sie schließlich aufstanden, schlug er sie. Wenn er jetzt darüber nachdachte, schlug er sie nicht wirklich; er gab ihr mit der flachen Hand einen Klaps auf die Backe. Er wusste nicht, wieso er das tat. Er hatte nie gesehen, wie ein Mann eine Frau schlug, aber da war etwas in ihm, das es tat. Daraufhin fuhren sie zurück, bis weit in die Mittagshitze, sie zehn Meter vor ihm, er hinterher. In einer Bushaltestelle diskutierten sie Stunden, was mit dem Kind passieren solle. Schließlich fuhren sie jeder getrennt nach Hause, ohne etwas ausdiskutiert zu haben; und als er sie Wochen später wiedersah, war ihr Bauch so flach wie eh und je.
Er saß auf der Couch, mit der Fernbedienung in der Hand, und drückte die TIME-Taste. Es war jetzt fast achtzehn Stunden her. Er schaute wieder rüber zu seinem kleinen Bruder. Es war seltsam, was er getan hatte, und noch seltsamer, wie er sich dabei fühlte. Er war vollkommen ruhig. Er war so ruhig, wie er lange nicht gewesen war. Vorhin war da die Euphorie gewesen, etwas Lebendiges, Aufputschendes. Wann war er jemals so glücklich gewesen wie vorhin? Er hätte sich nie vorstellen können, dass man sich fühlen konnte wie vorhin. Er schwitzte nicht besonders. Er war etwas schläfrig und er hatte etwas Hunger, aber ansonsten fühlte er nichts.
Das zweite Mal, als er abhaute, war es anders. Es hatte mit einem Mann namens Nana zu tun, ein Schwarzer mit breiten Kieferknochen und noch breiteren Oberarmen. Als Kind hatte Nana eine Krankheit, die sein linkes Bein kürzer als sein rechtes wachsen ließ, weswegen er entweder mit dem linken Fuß auf Zehenspitzen ging, oder einen speziell angefertigten Schuh mit enormen Absätzen trug.
Er wusste nicht, was es war, aber vom ersten Augenblick an, als er Nana sah, hasste er ihn. Nana stand im Treppenhaus vor ihm, seine Mutter an seiner Seite eingehakt. Es war Herbst und sie trugen beide lange Mäntel. Nana hatte ein glattrasiertes Gesicht und einen glattrasierten Schädel. Nana schüttelte erst seine Hand, dann Shauns. Sie gingen in die Küche, setzten sich an den Tisch und warteten, dass die Pizza kam. Seine Mutter hatte bei einem Italiener in der Stadt bestellt, inklusive Anfahrtskosten. Sie hatte sich die Haare kunstvoll hochgesteckt und dezenten, dunklen Lippenstift aufgetragen. Sie roch gut und sie sah schlank, nervös und glücklich aus in ihrem schwarzen, luftigen Einteiler. Ihre Bewegungen waren langsam und geschmeidig und sie lachte viel und streifte sich dabei mit den Fingern durch die Haare. Sie saßen am Küchentisch und er konnte nicht aufhören, auf Nanas speziell angefertigten Schuh mit den hohen Absätzen zu starren. Nana trug ein weißes Hemd und schwarze, eng anliegende Jeans, und an seinem linken, kurzen Bein war der eigenartige, klumpige Schuh mit dem hohen Absatz und den Klettverschlüssen. Nana alberte mit Shaun herum, und immer, wenn Nana etwas sagte, wippte er aufgebracht mit dem kurzen Bein und dem speziellen Schuh herum.
Als die Pizza kam und alle mit lauten Ohs und Ahs ihre Kartons öffneten, stand Alex auf und ging in die Küche. Er war so wütend. Er hasste das alles so sehr. Er hasste Nana. Er hasste seinen Klumpfuß und seine glattrasierte Glatze. Er hasste seine Mutter und – auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte – auch seinen Bruder Shaun. Er hasste dieses ganze Leben. Er hasste diese Küche und er hasste diese Wohnung. Er ging zur Spüle, zog das Schubfach darunter hervor und nahm das Hackmesser mit dem großen Griff in die Hand. Er spürte, wie dieses Etwas in ihm aufstieg, als sei es schon immer er selbst gewesen. Er ging zurück in die Küche und stand einen langen Augenblick hinter Nana, starrte das kurze, wippende Bein und die glattrasierte Glatze an. Shaun saß am Tisch gegenüber und lachte sein Shaun-Lachen, die Augen weit nach oben in den Schädel gedreht und weiße Spucke in den Mundwinkeln. Als er ausholte und mit dem Hackmesser-Griff zuschlug, sprang seine Mutter kreischend auf, aber es dauerte keine zwei Sekunden, da lag der Hundertzwanzig-Kilo-Nana regungslos auf dem ausgeblichenen Linoleum-Boden.
Im Heim lernte er ein Mädchen mit einem Tattoo auf dem Hals und der linken Schläfe kennen. Er erzählte ihr von seinem Bruder Shaun und dass er den gewalttätigen Freund ihrer Mutter mit einem Schraubschlüssel niedergeknüppelt hätte. Die Haut des Mädchens war von einem feinen, weißen Flaum bedeckt, ihre Augen groß und blau und ihre Hände ganz knochig. Als er ein paar Mal mit ihr geschlafen hatte, glaubte sie, schwanger zu sein, und zu ihrer beider Erstaunen wuchs ihr einige Wochen später der Bauch stark an. Als er sie ein paar Mal geohrfeigt hatte, war da die merkwürdige Gewissheit in ihm, das Mädchen entweder irgendwann totzuschlagen oder so weit weg wie möglich zu fahren, weg von der Siedlung und dem Ufer und den Tankstellen, die alle nur zwei Orte entfernt lagen. Sie waren siebzehn Jahre alt. In ein paar Monaten würden sie beide ausziehen müssen. Manchmal, wenn sie sich küssten und danach in die Augen sahen, oder wenn sie besonders laut lachte oder ihm die falsche Limonade aus dem Automaten mitbrachte, stieg dieses Beben in ihm auf, sie zu ohrfeigen, sie zu beschimpfen, ihr an den Haaren zu ziehen. Was war das?
Als das Mädchen mit dem Tattoo auf dem Hals das Kind im Krankenhaus gebar, lag er auf einer blanken Matratze, die wiederum blank auf dem Linoleum-Boden ihrer ersten gemeinsamen Ein-Zimmer-Wohnung lag. Die Wohnung hatte eine Kochnische, einen kleinen, engen Gang, ein fensterloses Bad und ihr Schlaf- und Wohnzimmer. Er lag auf der Matratze und konnte die Augen kaum offen halten, so viel Tilidin hatte er geschluckt. Auf seinem linken Unterarm trug er ein schwarzes Tribal. Er starrte auf die Decke, die Lider schwer, und hörte die Nachbarn ein Stockwerk über ihm hin und her laufen, Stühle rücken. Er hatte das Handy auf dem Fußboden neben ihm klingeln und vibrieren hören, aber nicht reagiert.
Manchmal, wenn das Baby zu Hause ununterbrochen schrie, lief er einfach so durch die Siedlung, kaufte sich bei Rewe eine Dose Monster, setzte sich auf die Parkbank gegenüber und sah dem Treiben der Leute zu. Es war Juli, es dämmerte bereits und er sah den Mercedes am Straßenrand stehen. Das Seitenfenster war einen Spaltbreit offen, und er konnte seine Hände hindurch stecken, die Scheibe nach unten drücken. Er setzte sich in den Wagen, positionierte den Rückspiegel, brach die Seitenverkleidung des Lenkrads ab, zog die Drähte aus dem Schloss, hielt den roten an den schwarzen und fuhr anschließend hinauf bis in die Siedlung. Er lachte und grinste breit, als er fuhr. Sie wohnten nur einen Ort von seiner Mutter entfernt, aber die Straßen, Ampeln, Wohnblöcke, Pflanzen und Gerüche unterschieden sich nicht.
Er wusste, dass es ihm nicht schwerfallen würde, seine Freundin zu überreden, mitzufahren. Sie hatte eine Großmutter und eine Cousine hier im Ort, an denen sie hing. Mehrmals in der Woche wachte sie nachts schnaufend und schwitzend auf, setzte sich auf die Bettkante, heulte und rauchte zwei, drei Zigaretten, ehe sie sich wieder auf die Matratze legen und die Augen schließen konnte. Sie sagte, ihr Onkel hätte ihr die Tattoos gestochen, und ein Junge aus der Siedlung hätte ihr das andere angetan. Ein Türke. Alex rief sie mit dem Handy an, und anschließend saß er im Wagen am Straßenrand und wartete, ehe sie zehn, fünfzehn Minuten später mit drei Taschen und der Babyschale beladen durch die Dämmerung in seine Richtung hetzte.
Sie sagte, sie liebe den dichten, grünen Wald, den klaren See.
Sie legte die Babyschale mit dem Kind auf die Rückbank, zündete sich eine Zigarette an und stellte das Navigationssystem ihres Handys ein. Alex fuhr die halbe Nacht über Landstraßen und durch Dörfer, und am nächsten Morgen sahen sie die Sonne im Osten vor sich aufgehen, das Wasser in weiter Ferne groß und grün-blau glitzern. Das Baby in der Babyschale auf dem Rücksitz strampelte, heulte und schrie.
Er parkte den Wagen auf einem Rastplatz, von dem aus sie nur fünfzehn, zwanzig Minuten durch Weizenfelder, Wiesen und Dickicht vor zum Wasser brauchten. Sie ließen das Kind im Wagen und saßen den Nachmittag über mit ihren Toastbroten auf einem umgeknickten, moosbewachsenen Baumstamm, der zur Hälfte in den See reichte. Die meiste Zeit schwiegen sie, mit dem Vogelgezwitscher und dem Rascheln des Waldes hinter sich. Sie sahen Zander und Graskarpfen durch das Wasser unter ihren Füßen gleiten, und am anderen Ende des Sees, winzig und kaum hörbar, ein Badestrand, rote Tretboote und kreischende Kinder. Er hatte noch nie außerhalb des Fernsehens eine derart große Masse Wasser gesehen; er roch das Wasser: Algen, feuchte Erde; er sah seine glänzende Oberfläche bis zum Horizont reichen, hörte das Plätschern in der kleinen Bucht, in der sie saßen. Was gab es dort draußen noch alles, das er nie gesehen hatte? Was für ein Mensch war er?
Nachts gingen sie zurück zum Parkplatz. Als sie die Tür öffneten, schrie das Kind wieder, aber leise, erschöpft. Es hatte einen seltsam roten Kopf und war von Stirn bis zu den Füßen von glänzendem Schweiß bedeckt. Er lief auf dem Parkplatz auf und ab, rauchte, während sie sich um das Baby kümmerte. Anschließend legten sie die Babyschale auf den Fahrersitz, klappten die Rückbank nach hinten und breiteten ein paar Decken darauf aus. Später, als sie auf den Decken lagen, zog er erst ihre Unterwäsche aus, dann seine. Sie wehrte sich, und als er sie ohrfeigte, drehte sie den Kopf zur Seite und starrte aus dem Fenster. Er spürte, wie sie unter ihm verkrampfte, hörte ihr schnappartiges Schnaufen. Ihre Schwäche machte ihn so wütend. Links und rechts neben ihnen die hohen Lastzüge der LKWs. Durch die Windschutzscheibe das weiße Licht des Mondes und die blinkende Leuchtreklame des angrenzenden Rasthofs. Der Himmel olivschwarz. Als er in sie eindrang, ohrfeigte und würgte er sie. Adrenalin in seinem Körper, auch Ekel. Sie rührte sich nicht, während er sie fickte. Sie keuchte und stöhnte, und er spürte ihre Hitze, ihren kalten Schweiß, legte sein Gewicht auf ihren Hals und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Er dachte an all das Wasser, an »das Ufer« und wie das Baby schrie. Ihr Ein-Zimmer-Apartement, die blank auf dem Boden liegende Matratze. Das Kindbett daneben. Wie unfair das alles war. Wie unfair das alles für ihn gelaufen ist. Nachdem er sie auf den Bauch gedreht, an den Haaren gepackt und eine Weile gegen die Rückbank gepresst hatte, kam es ihm. Er rollte sich zur Seite, auf den Rücken, atmete, schnaufte, fuhr sich durch das verschwitzte Haar. Sein Herz raste. Ihm war kotzübel. Er war wütend über etwas, das er nicht greifen konnte. Er spürte sie neben ihm zittern. Ihr Hyperventilieren. Sie rührte sich nicht. Sie lag da, zitterte und hyperventilierte, den Blick noch immer aus dem Fenster. Als ob sie es verdient hätte. Ihre Liebe, ihre Zutraulichkeit widerten ihn an.
Als er aufwachte, sah er sie mit ihrer aufgeklappten Puderdose in der Hand draußen neben dem Wagen stehen, sich im Seitenspiegel betrachten; ihr rotblond-gefärbtes, zum Dutt gebundenes Haar, der blaue Dunst der Zigarette, der zwischen ihren knochigen Fingern aufstieg. Ihr schmaler Körper, ihre dünnen, langen, weißen und tätowierten Arme. Die Babyschale mit dem nach oben stehenden Tragegriff auf dem Parkplatz-Asphalt neben ihr. Er öffnete die Hintertür, streckte die Beine aus dem Auto, fuhr sich durch das strohblonde, verwachsene Haar und zündete sich eine Zigarette an. Hitze stand im Wagen, die Sonne brannte vom Himmel. Sie liefen zur Raststätte, frühstückten, versorgten das Baby und tranken Booster-Energy, und anschließend legten sie die Babyschale mit dem Kind wieder auf die Rückbank und gingen zum See. Sie sagte nichts, die ganze Zeit über, und er begann ein paar Sätze, brach sie aber immer wieder ab.
Sie saßen in der Bucht, am Wasser, und rauchten. Er wusste, dass es falsch gewesen war, sie auf die Art zu ficken. Wie es der Junge getan hatte, aus ihrer Nachbarschaft. Er hätte nicht mit ihr hier her fahren sollen. Er hätte das Auto nicht knacken sollen. Es hatte nichts geändert. Nichts würde die Kraft haben, etwas zu ändern. Nichts würde die Kraft haben, ihn zu ändern. Er wusste, dass sie nicht mehr lange bei ihm bleiben würde. Er wusste, dass sie darüber nachdachte. Er wurde wütend, wenn er daran dachte. Er dachte an das Baby, wie es schrie. Was hatte er erwartet? Würde er jemals etwas anderes sehen, als diese Wohnungen, die Gänge, die Küchen? Er dachte, alles sei unfair für ihn verlaufen. In Gedanken gab er seiner Mutter an allem die Schuld. Er gab den Männern an allem die Schuld. Er gab der Welt und das, was andere die Gesellschaft nannten, an allem die Schuld. Ihr seid alle Fotzen, dachte er. Er sah die Weite des Sees und fühlte die Enge, die er seit jeher zu spüren glaubte.
Als sie später am Wagen ankamen, lag das Kind bewusstlos und mit einem dunkelroten Kopf in der Babyschale. Sie schnallte es ab, hob es aus dem Auto und schüttelte es. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. »Shit«, sagte sie, mit der Sonnenbrille auf, und sah Alex an.
Im Schatten hinter den Raststätten-Toiletten zog sie das Baby aus, legte es auf den Pflasterstein und schüttete Wasser aus einer ihrer großen PET-Flaschen über seinen Kopf und Bauch. Ein paar Sekunden später bewegte sich das Kind wieder leicht, ließ die Augen aber geschlossen und schrie nicht. Alex sah auf sie hinab. Er hasste dieses Mädchen so sehr. Er hasste das Kind so sehr. Er hasste das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihnen zusammen war. Wieso hatte sie sich nicht gewehrt? Wieso gab es dieses Kind? Ihr seid alles Fotzen, dachte er. Wie könnt ihr mich nur so verarschen. Er steckte sich eine neue Zigarette an, trippelte mit den Beinen herum und sah seiner Freundin zu, wie sie das Kind dort auf dem Pflasterstein trocken rieb und neu einkleidete. Er dachte daran, bis zu seinem Tod mit ihr und dem Kind verbunden sein zu müssen. Er wusste nicht, was er ändern könnte. Er hatte eine abgebrochene Maler-Ausbildung und eine Vorstrafe wegen versuchtem Totschlags. Er bekam keine Arbeit, und wenn, dann einfache Trage- und Hilfsarbeiten, Mindestlohn und Zehn-Stunden-Schichten. Entweder hörte er zu Hause das Kind schreien oder trug auf Baustellen Stahlgerüste, schaufelte Kies und Erde für kleine Landschaftsgärtnereien, um alles für ihre Miete, Essen, Tabak, Softdrinks und das Baby ausgeben zu müssen.
Ihr habt mich alle hier her gebracht, dachte er. Aber ihr wisst nicht, dass ich großartig bin.
Auf ihrem linken Oberarm trug sie ein großes, schwarzes Kreuz-Tattoo.
Er sah auf das Tattoo und grinste.
»Gott«, sagte er spöttisch.
»Was?«, fragte sie.
Er stellte sich vor, sie totzuschlagen, seine Freundin und ihr Kind. So wie er Nana damals fast totgeschlagen hätte. Sie und ihr Baby totschlagen, mit der Landschaftsgärtnerei ein Loch in einem fernen Garten graben, sie mit Erde zuschütten und mit einem gestohlenen Wagen so weit wie möglich wegfahren.
Das Meer sehen. Auf einem Schiff arbeiten, bis nach Japan fahren; Wasser, so weit sein Auge reichen würde.
Er rauchte und sie zog dem Baby das Oberteil über und sagte: »Darf ich mal Kippe ziehen?« Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte; sie kniete noch dort auf dem Boden, zog das Shirt über den Kopf des Babys und hielt ihre Hand schließlich fordernd in Alex’ Richtung. Er spürte die Wut wieder in sich aufsteigen; sein Herz pumpte, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Das Zittern seiner Hände. Wieso verpisste sie sich nicht endlich?
Gott, die Nutte, will sich über mich lustig machen; der Nutten-Gott hat mir das alles eingebrockt.
Als sie sich in der Hocke sitzend schließlich zu ihm umdrehte und: »Schatz?« sagte, holte er mit dem Fuß aus und trat ihr mit der Schuhsohle ins Gesicht. Sie fiel rücklings auf den Boden, neben das Baby, die Hand vor Nase und Mund. Das Baby schrie. Ihre Augen richteten sich gläsern und panisch auf ihn. Sie blickte sich kurz auf die Handfläche, sah all das Blut, das aus ihrer Nase strömte, und sah dann wieder zu ihm. Der vertrocknete, braune Rasen neben ihnen. Der Urin-Geruch der Rastplatz-Toiletten. Die drückende, schwere Hitze. Das Schreien des Kindes. Das Hupen eines LKWs ein paar hundert Meter entfernt von ihnen.
Als er am nächsten Morgen auf dem Beifahrersitz aufwachte, waren Anna und das Baby mitsamt der Babyschale verschwunden. Vielleicht hatte er sie nachts aussteigen hören und so getan, als ob er schlief. Vielleicht war sie zu einem der Trucker eingestiegen und schon längst in einer anderen Stadt, in einem fremden Land. Vielleicht war sie längst tot. Vielleicht saß sie gerade mit dem Kind in der Raststätte und wartete, dass ihre Großmutter sie abholen käme.
Er kurbelte das Fenster herunter, stieg vom Beifahrersitz auf den Fahrersitz und startete den Wagen. Sein ganzer Körper war verschwitzt, die Hitze schwer im Auto. Die Sonne prall vom ozeanblauen Himmel. Seine Blase drückte und sein Mund war trocken. Pall Malls und ein paar Euro-Stücke in seiner Hosentasche. Er startete den Wagen. Er wusste, dass es sinnlos war. Er legte den Rückwärtsgang ein, parkte aus und bog auf die Autobahn. Er wollte so lange geradeaus fahren, wie er konnte. Er wusste nicht, in welche Richtung er fuhr. Er dachte an das Meer, an eine Werft und an ein großes Container-Schiff, auf dem er anheuern würde. Er dachte an Japan, an die vielen Kung-Fu-Filme, die er sich mit Shaun im Fernsehen angesehen hatte. Er dachte an unendlich weites Wasser. Er dachte daran, wie er sie vergewaltigt hatte. Er wurde furchtbar wütend auf seine Mutter, kramte seine Zigarettenschachtel aus der Jeans-Tasche und steckte sich eine Kippe an. Die Fenster geöffnet, die Luft drückend in den Innenraum ziehend. Er dachte, dass Nana und seine Mutter schuld daran wären. Er dachte, dass Gott schuld daran wäre. Wieso hatte Gott ihn so scheiße behandelt?
Lutsch mir die Eichel, Gott.
Er folgte weiter der Autobahn, und der Durst, die Hitze und das Nikotin machten ihn müde, schwindelig.
Als der Motor eine Dreiviertelstunde später zu stottern begann, bog er auf den Standstreifen und zog die Handbremse. Er hatte kein Geld für Benzin. Er wusste nicht, wo der nächste Rasthof war. Wenn die Polizei käme, würde er festgenommen. Die Sonne stieg immer weiter den Himmel empor, die Hitze flimmerte vom Asphalt und ein LKW raste an ihm vorbei.
Er lief am Rand der Autobahn, hielt sich an der Leitplanke fest, rechts von ihm abfallend der verwilderte Graben. Dahinter Wiesen, brachliegende, braune Äcker, in weiter Ferne Windräder, die Silhouette einer versprengten Siedlung. Er war klatschnass geschwitzt und schnaufte, seine Arme und sein Gesicht aufgebrannt, und in der Hand trug er seinen blau-gelben Kapuzenpulli. Das Auto irgendwo weit hinter ihm, er hatte es schon fast vergessen. Keine Gedanken in seinem Kopf, nur die dröhnende Hitze auf und in ihm und das deutliche, klare Bild von Wasser in seiner Vorstellung.
Er legte mehrere Pausen unter dem Schatten von Bäumen und Brücken ein, die ihn auf seinem Weg neben der Leitplanke passierten, weil er befürchtete, ansonsten umzukippen. Wenn er die Augen offen hielt und geradeaus sah, schwankte alles. Seine Kehle so trocken, dass es schmerzte. Sein Magen leer und sein T-Shirt, seine Shorts und seine Socken komplett durchgeschwitzt. Seltsame Gedanken in seinem Kopf, und dann wieder keine. Immer wieder das Bild des am Kreuz hängenden Jesus und das Gesicht seiner Mutter vor Augen, und dann das Gefühl, über weite Wassermassen zu blicken, einen ganzen Ozean austrinken und in sich aufnehmen. Die Mädchen »am Ufer«. Seine Tochter, die er selten so nannte. Meterhohe LKW, die hupend und mit Luftzug an ihm vorbei rasten. Über allem die Sonne wie das wache, strafende Auge jener uralten, ersten Mutter, deren Kindeskind auch er war.
Seltsam, wie die Zeit in ihm verschwamm. Er hätte nicht sagen können, ob er zwei oder fünf Stunden in der Hitze neben der Leitplanke gelaufen war. Alles drehte sich in ihm, kalter Schweiß lag auf seinem Gesicht. Als er sich in den Schatten eines kleinen Gebüschs im Graben neben der Leitplanke legte, übergab er sich, und anschließend wurde ihm schwarz vor Augen. Er lag noch einige Zeit schnaufend und auf dem Rücken dort im Schatten, ehe er wieder aufstand, hoch zu der Leitplanke kletterte und weiterlief. Die Sonne heiß und brennend auf ihm, die Luft dick, schwer und voller Benzin. Nicht viel später sah er die Shell-Leuchtreklame eines Rasthofs fünfhundert Meter vor sich auftauchen.
Als er auf den Rasthof ging, schlenderte er über den Stellplatz für die LKW und schließlich über den der PKW. Eine Familie mit zwei kleinen, lachenden und kreischenden Kindern aß auf einer Holzbank ihr Vesper, der Kofferraum ihres Kombis stand offen. Als sie ihn an sich vorbeigehen sahen, verstummten die Kinder und blickten ihn mit großen Augen an.
Im Shop kaufte er sich für drei Euro eine kleine Flasche Coca Cola. Er dachte an den Gekreuzigten. Er sah Jesus vor seinen Augen. Er öffnete die Flasche an der Kasse und trank sie fast leer. Er ging durch die Schiebetür vor den Laden, setzte sich auf den Bordstein und trank den Rest in kleinen Schlucken, ließ die Flüssigkeit lange im Mund verweilen. Sein Hals war trotzdem trocken und brennend, der Schwindel und die Übelkeit nach wie vor in ihm, so wie die Hitze, die Sonne, die Gänge, seine Freundin, seine Tochter, seine Mutter und Shaun in ihm waren. Er stand auf, ging wieder durch die Schiebetür, zahlte am Drehkreuz zu den Toiletten mit seinem letzten Kleingeld und füllte am Waschbecken der Sanitär-Anlagen seine Flasche auf und trank sie mehrmals in großen Schlucken wieder leer.
Er lief auf den PKW-Parkplatz, aber nirgends konnte er die Familie finden. Er sprach einen Mann mittleren Alters an, mit silbernem Haar, Audi und Jackett, aber der schüttelte bloß den Kopf, stieg wieder in seinen Wagen und verriegelte die Türen. Alex stand einige Zeit in der brennenden Sonne am Bordstein, streckte den Daumen aus und sah Fahrzeuge an sich vorbeifahren. Er lief zu den Truckern und sprach vier, fünf vor ihren Führerhäuschen an, aber alle verweigerten ihm die Mitfahrt oder taten, als sprächen sie nicht genügend Deutsch. Er setzte sich mit ausgestrecktem Daumen an den Bordstein, wo die Fahrzeuge auf die Autobahn bogen, aber niemand hielt. Die Sonne heiß und brennend vom Himmel. Er fühlte sich müde, durstig und schwindelig. Die Plastikflasche hatte er fast geleert. Er sprach ein paar LKW-Fahrer an einer Holzbank an. Er sagte, er wolle nur weg von hier. Er sagte, er wolle in Richtung Küste. Sie besahen ihn kurz, dann schüttelten sie den Kopf und blickten weg von ihm. Er sah, dass einer der Männer ein goldenes Kreuz um den Hals trug. Er lief die vier, fünf abgestellten PKW auf und ab und suchte nach einem offenen Fenster oder einem steckenden Schlüssel. Er dachte nach, wie er weg von hier kommen könnte. Er dachte, zu Fuß würde er es nie weit schaffen. Er dachte daran, schwarz mit einem Zug zu fahren, aber er wusste nicht, wo ein Bahnhof sein sollte. Er legte sich auf eine Bank, in den Schatten, und atmete durch. Alles drehte sich in ihm. Er lief zu den LKW-Fahrern und einer reichte ihm eine halbvolle, lauwarme Flasche Coca Cola. Er setzte sich an die Ausfahrt auf den Bordstein und nahm ein paar Schlucke. Er saß dort zwei Stunden lang und streckte den Daumen aus, aber niemand hielt. Sein Durst war riesig, seine Kehle brennend trocken, seine Klamotten nassgeschwitzt an ihm klebend. Schwindel und Übelkeit in ihm. Er wusst nicht, was er tun sollte. Er wusste, dass er es ohne Flüssigkeit keinen Tag mehr in der Hitze aushalten würde. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er hielt den Daumen ausgestreckt und sah die Fahrzeuge an ihm vorbeifahren.
Ein Shell-Mitarbeiter weckte ihn einige Stunden später auf. Alex lag neben seinem Erbrochenem auf dem Bordstein der Ausfahrt. Er musste eingeschlafen sein oder hatte sonstwie das Bewusstsein verloren. Sein Körper fühlte sich tonnenschwer an. Seine Kehle war so trocken, dass er keinen Ton herausbrachte. Alles war nass an ihm, und trotzdem war da all die Trockenheit. Wenn er aufstehen wollte, wurde ihm schwarz vor Augen. Er glaubte, sich ein weiteres Mal übergeben zu müssen. Er verstand nicht, was der Shell-Mitarbeiter sagte. Der Shell-Mitarbeiter kniete über ihm, zeigte mit der Hand in eine Richtung und blickte Alex dabei ins Gesicht.
Einige Minuten später sah er den Shell-Mitarbeiter aus dem Shop wieder zu ihm herüber hetzen, mit einer kleinen Flasche Fanta und einer Bäckertüte beladen. Der Shell-Mitarbeiter kniete sich zu ihm. Alex nahm die Flasche und trank ein paar Schlucke. All die dicke, heiße Sommerluft um ihn. Noch ein weiterer, grauhaariger und stark übergewichtiger Shell-Mitarbeiter tauchte über ihm auf, tupfte sich mit einem Papiertuch den Schweiß von der Stirn, fluchte und gestikulierte mit den Händen. Alex trank ein paar Schlucke und setzte sich schließlich auf. Für einen Augenblick war da etwas in ihm, das sich tot anfühlte; als sei dort in der Mitte seines Bauches ein großes Etwas – ein Organ – das da nun abgestorben verklumpen und in ihm hängen würde. Vielleicht hing auch der Gekreuzigte in ihm. Er fasste sich an den Bauch; er hatte fürchterliche Bauchschmerzen.
Er übergab sich noch mal und er wusste nicht, ob die dunkle Flüssigkeit, die aus ihm brach, Blut oder Coca Cola war.
»Wir haben den Krankenwagen gerufen«, sagte der jüngere Shell-Mitarbeiter und kniete neben ihm. Alex spülte sich den Mund mit Fanta aus und trank noch ein paar Schlucke von der Flasche. Er roch sein Erbrochenes. Er dachte an den Wagen und an Japan. Er dachte an seine Tochter, wie sie schrie. An die Dummheit seiner Freundin.
Er winkte ab und stand auf. Der adipöse, ältere Shell-Mitarbeiter sah ihn mit aufgerissenen Augen an und hielt ihn an der Schulter fest. »Bleib sitzen«, sagte er.
»Nein«, sagte Alex. Er trank noch einen Schluck Fanta und lief dann los. Der Adipöse wollte ihn festhalten, aber Alex schubste ihn im Gehen weg; schließlich ließ der Adipöse es sein. Alex hörte die beiden von der Stelle, an der er aufgewacht war, noch weitere Dinge ihm zurufen; schließlich kletterte er über die Hecke am Außenbereich der Tankstelle, und dann hörte er auch sie nicht mehr. Er blickte nicht zurück. Er hatte keinen Gedanken in seinem Kopf. Die Sonne brannte vom Himmel. Da war etwas in ihm. Er fühlte sich wie in einem seiner fiebrigen, tilidingeschwängerten Träume. Er lief durch eine hüfthohe Wiese, dann den sandigen Feldweg zwischen zwei braunen Äckern entlang. Er dachte wieder an die Siedlung, die er von der Autobahn aus gesehen hatte. Er dachte wieder an seine Tochter, an seine Mutter. Er spürte den Ozean in sich; das riesige Meer, die schiere Menge an Wasser, der schwankende Wellengang, der auch seinen Körper zum Schwanken brachte.
Nachdem er den Kamm des Ackers passiert hatte, führte der Feldweg bergab und schließlich in ein Waldstück. Er lehnte sich an den erstbesten Baum, den er im Schatten fand und setzte sich. Seine Füße, Arme, Beine, sein Bauch und sein Kopf drückten, zogen und pochten. Er kramte eine Zigarette aus seiner Hosentasche, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Kalter Schweiß auf seinem Gesicht. Er trank die Fanta-Flasche leer und warf sie neben sich. Er atmete durch und wurde ein klein wenig klarer im Kopf. Die Vögel zwitscherten. Das Laub im Geäst über ihm raschelte. Er dachte, er müsse schnellstens an Wasser kommen. Er dachte, er müsse schnellstens eine Ortschaft oder Siedlung finden. Er dachte das erste Mal daran, dass er an diesem oder dem kommenden Tag sterben könnte. Dass er vielleicht schon dabei war, zu sterben. Er zog sich am Baum hoch, stand eine Sekunde schwankend auf der Stelle und ging schließlich weiter. Er fasste sich an die Stirn und merkte, dass sie brannte.
Er folgte eine Dreiviertelstunden den Feldweg durch den Wald. Er kam in lichter werdenden Wald; und schließlich stand er in der Siedlung. Die Straße gebogen; links und rechts von ihr fünf, sechs Häuser: windschiefe, niedrige Dächer, Fachwerk. Der Geruch von Dung.
Er sah den Mann seltsam an seinem Gartenzaun lehnen. Der Mann hatte weißes, langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Auf dem Kopf trug er eine Schirmmütze aus durchsichtigem, rosa Plastik. Das Gesicht eingefallen und fahl.
Alex lief den Gehweg entlang. Der Alte hing mit den Armen über den Gartenzaun und besah ihn. Der Alte hatte einen wachen, scharfen Blick. Er spuckte auf den Boden. Als Alex fast vor ihm stand, sah er, dass der Mann im Rollstuhl saß. Seine Beine waren zwei Stümpfe, die wie Fäuste in abgeschnittenen Jeans aus seinem Becken standen. Der Alte saß in einem großen, zugewucherten Garten und lehnte mit den Armen über den Gartenzaun. Er spuckte auf den Boden.
»Haben Sie was zu Trinken?«, fragte Alex. »Ich verrecke gleich«, sagte er.
Der Blick des Alten glitt von Alex’ Stirn bis zu seinen Turnschuhen. »Schaust scheiße aus«, sagte der Alte. Er lispelte. In seinem Mund fehlten einige Backenzähne. Er spuckte wieder auf den Boden, besah Alex noch mal. »Schaust aus, als ob’s ’ne Straftat wäre, dich hier draußen verrecken zu lassen«, sagte der Alte.
Der Alte nickte vor zur Auffahrt; dann rutschte er zurück in seinen Rollstuhl, schob mit seinen Händen die Räder an und rollte über den Rasen vor zum Haus. An der Haustür drehte der Mann seinen Rollstuhl. »Zieh mich hoch«, sagte er.
Alex ging hinter den Rollstuhl, nahm die Griffe in die Hand und zog den Alten die drei Treppenstufen hoch zur Haustür.
Der Mann spuckte auf den Boden, drehte den Rollstuhl, öffnete die Fliegengittertür und rollte in den Gang. Alex trat über die Türschwelle, die Fliegengittertür in der Hand; der Hausflur war dunkel und angenehm kühl. Links und rechts an die Wände gelehnt standen hüfthohe Stapel an gebundenen Zeitschriften, Zeitungen und Kartons. Der Boden war mit okkerfarbenen Kacheln ausgelegt, wobei die einzelnen Platten vergilbt, schief und mit dicken Betonfugen angeordnet waren. Ein schwerer, erdiger Geruch hing im Haus. Die Küche bestand aus einer Spüle, die vollkommen mit Tellern und leeren Dosen gefüllt war, einer Arbeitsfläche, auf der benutzte Teller, Töpfe und Dosen gestapelt waren, und ein Holztisch mit Eckbank, der beinahe vollkommen mit Zeitschriften- und Zeitungsstapeln bedeckt war. Die Decke überspannte ein brunnengroßer, schwarzer Schimmelfleck. Über der Spüle hing ein bronzenes, großes Kruzifix. Der Alte saß im Rollstuhl am Spülbecken und füllte Wasser in eine Plastikflasche. Er drehte sich um und sah Alex in der Tür stehen.
»Hier«, sagte der Mann. Er reichte ihm die Flasche. Alex nahm sie, setzte den Verschluss an seine Lippen und trank in großen, kräftigen Zügen. Er stand da und trank die Flasche fast leer. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er ging in die Knie. Seine Ohren rauschten.
»Junge«, sagte der Alte. Der Alte saß jetzt vor ihm, die eine Hand auf das Knie gestützt, und glotzte ihn an. »Bist du im Eimer«, sagte der Alte.
Der Mann rollte zu einem der Schränke, bückte sich, öffnete die Tür und hielt eine Dose Baked Beans in der Hand. »Setz dich«, sagte er. Alex zog sich hoch, setzte sich auf die Eckbank und trank aus der Flasche. Sein ganzer Körper war schweißbedeckt. Seine Schläfen pochten. Seine Wangen und seine Stirn brannten und juckten. Die Müdigkeit hing so bleiern in seinen Augenlidern, dass er sie nur mit Kraft offen halten konnte. Alles drehte sich in ihm. Aber dann hörte er das Vogelgezwitscher. Er blickte hoch und sah, dass – im Raum verteilt – vier oder fünf Vogelkäfige oben auf den Küchenschränken und dem Kühlschrank standen. Wellensittiche flatterten darin, pfiffen.
»Iss das«, sagte der Alte. Sein Geruch – Schweiß, Erde, Urin und Bier – stieg Alex in die Nase. Der Alte schob ihm die aufgezogene Dose mit einem Löffel darin auf den Tisch. Alex sah, wie der Mann einen seiner Beinstümpfe bewegte. Dann aß Alex, langsam, Löffel für Löffel. Ihm war übel und schwindelig, aber die Bissen beruhigten seinen Magen.
Er wachte im Wohnzimmer des Alten auf. Alles war dunkel; nur der bläulich grauende Nachthimmel brach durch die Fenster. Der Raum war fünfzehn Quadratmeter groß, mit einem Röhrenfernseher an der einen Wand und der Ledercouch an der gegenüber liegenden. Dazwischen Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, Kartons und ein Hundekorb.
Alex setzte sich. Sein Kopf stach so sehr. Ihm war so schwindelig. Wie war alles so weit gekommen? Er hasste Anna so sehr. Er hasste seine Mutter so sehr. Und er hasste Shaun. In Gedanken gab er ihnen die Schuld an allem; an seiner Ausweglosigkeit. Er wusste, dass er nie von Anna und dem Kind loskommen würde. Er müsste ihnen ein Leben lang Geld zahlen. Er müsste ein Leben lang buckeln. Steine schaufeln, die Schreie des Chefs. Er zündete sich eine Zigarette an. In Gedanken gab er seiner Mutter die Schuld an allem. Er gab den Männern die Schuld an allem; seinem Vater, den er nie kennenlernte, und Nana. Er gab die Schuld dem, was andere die Gesellschaft nannten. Er wusste, dass er sein Leben lang buckeln würde. Er wusste, dass er nie auf ein Schiff nach Japan anheuern würde; er hasste sich so sehr. Er hasste sich, weil er so dumm war. Alles war unfair für ihn verlaufen. Der Richter hatte ihn unfair behandelt. Die Erzieher im Heim hatten ihn unfair behandelt. Die Frauen hatten ihn unfair behandelt. Ganz besonders die Frauen. Er wurde so wütend, dass seine Hände zitterten; schließlich seine kompletten Unterarme. Er stand auf und ging hinüber in die Küche. Er schaltete das Licht ein. Er sah die Wellensittiche oben auf den Küchenschränken in ihren Käfigen sitzen, ihn ansehen, mit dem Gefieder flattern.
Wie konnten ihn alle so im Stich lassen? Alex atmete tief ein und aus. Das Herz trommelte in seiner Brust. Die Gedanken an seine Ausweglosigkeit. Als ob er Steine gefressen hätte. Seine Hände zitterten. Er hasste Anna so sehr. Er hasste das Kind so sehr.
Da war dieser Druck in seinem Brustkorb. Das Gefühl, zu platzen. Er lief in der Küche hin und her. Sein Herz raste. Müdigkeit und Scham lagen schwer wie Blei auf ihm. Er dachte, dass er durchdrehte, wenn er weiter die Küche auf und ab lief. Er ging zum Waschbecken, drehte das Wasser auf, hielt seinen Mund unter den Hahn und trank einige Sekunden wie ein Köter. Ich bin Abschaum, dachte er. Ich bin großartig, dachte er. Er wusste, dass er großartig war. Wie konnten alle sagen, er sei schlecht?
Seine Wut steigerte sich so sehr, dass er glaubte, sie nicht länger bescherrschen zu können. Er spürte, wie dieses Etwas in ihm aufstieg, Besitz von ihm ergriff.
Mutter, ich möchte dir mit meiner blanken Faust langsam und genüsslich jeden einzelnen deiner Zähne aus dem Mund schlagen. Ich möchte dir ein Gummiband um den Hals knoten und daran ziehen, um zu sehen, wie du spuckst und Angst vor mir kriegst.
Er ging durch die Küchentür, stand einen Moment im Gang; Stille lag in der Nacht. Er stellte sich vor, wie das Etwas dort in der Küche, als er keuchend hin und her gelaufen war, von der Mitte seines Bauchraumes angewachsen war, immer größere Teile seines Körpers eingenommen hatte und sich ihn – Alex – wie eine Puppe vollständige übergestreift hätte. Wie eine Hand, die in einen Handschuh gleitet. Er liebte es, sich so etwas vorzustellen. Er liebte es auch, sich vorzustellen, er sei der Sohn Gottes. Er schnaufte und trat vom Gang auf die ersten Stufen der betonernen Treppe, die in den ersten Stock führte. Mit jedem Schritt spürte er so etwas wie einen frischen Wind in sein Wesen ziehen. Sein Bauch kribbelte. Einen Augenblick wurde ihm speiübel, dann fühlte er große Verknalltheit; woher kam das?
Er ging die Treppenstufen hinauf. Er ging langsam, Schritt für Schritt, schleppend. Seine Hände und Beine zitterten. Die Haut seines Gesichtes, seiner Arme und seines Bauchraumes prickelten. Er schloss die Augen und sah grenzenlose See vor sich. Azurblau. Er roch Staub, nassen Stein und Schimmel. Auf eine seltsame Art befahl ihm das Etwas, dort hoch zu gehen. War er der Sohn Gottes? Er wusste, dass er großartig war. Er wusste, dass sich sogar Gott vor ihm fürchtete. Er wusste, dass er wollte, dass Gott ihm den Schwanz lutschte. Er wollte in Gottes Mund pissen. Er wollte Gott an den Haaren ziehen, ihm seinen Mund ficken.
Er öffnete die Holztür. Schweiß-, Urin- und der Geruch von nasser Katze standen im Zimmer. In der Mitte lag friedlich der Alte, mit dem Hinterkopf zu Alex, die Arme ausgestreckt, die Bettdecke halb zerrissen seinen Körper bedeckend. Der Mond brach schwach durch die herunterhängende Jalousien. Der Boden voller Pappkartons und Stapeln an Klamotten. Alex lief vorsichtig über den Teppichboden. Er hörte den Atem des Alten; er sah seine nackten Beinstümpfe, seinen blanken, behaarten Rücken; den silbernen Pferdeschwanz auf dem Hinterkopf verknotet. Als er den Alten ansah, wusste er, was er tun würde. Beim Gedanken, den Alten totzumachen, stieg das Gefühl grenzenloser Freiheit in ihm auf. Als ob er all die Dinge, die er getan hatte, nie getan hätte. Als ob er tun und lassen könnte, was er wollte. Als ob er ungestraft seiner Natur folgen könnte.
Er drehte sich um, öffnete die Türen des massiven Eichenschranks. Mit jeder Bewegung, die er tat, stieg das Gefühl des Davonfliegens an. Das Gefühl, abseits der Gesellschaft zu stehen. Das Gefühl, Gott und alle Menschen hinter sich zu lassen; über ihnen zu stehen. Gott tot zu machen. Wer war Gott, wenn er ihn nicht aufhalten konnte? Gott war eine Nutte. Eine kleine Schlampe. Gott war machtlos gegenüber ihn. Er sah vor seinem inneren Auge die Welt von oben wie in einem Heißluftballon, und Gott über den Wolken sitzen. Er sah es von oben, er sah sich darüber hinweg fliegen.
Er zog einen Ledergürtel von der Stange. Alles vibrierte in ihm.
Du kannst mir nichts sagen, Gott.
Er begann, unweigerlich einen Moment lautlos loszuprusten. Er drehte sich um, ging über den Teppichboden bis vor das Bett des Alten. Mit jedem Schritt wurde die Aufregung, das Kribbeln, das Gefühl der Übelkeit und auch das des Schwebens, des Losgelöstseins, des sich von allem Entfernens, des Übergottstehens, größer.
Er stieg vorsichtig mit den Knien auf die Matratze des Alten. Er sank ein wenig in das Polster ein. Der Rücken des Alten hob und senkte sich im Atemrhythmus. Stille umgab ihn. Stille zog in Alex ein, und für einen Moment dachte er darüber nach, die Treppe wieder nach unten zu gehen, eine Kleinigkeit zu essen und das Haus in Richtung Autobahn zu verlassen.
Aber der Gedanke an die Unfreiheit, an die Schwere, die Wut und die Ungerechtigkeit, die ihm überall widerfahren war und widerfahren würde, und die er dort draußen spüren würde, hielten ihn davon ab.
Wut brach in ihm aus; das Etwas, das Besitz von ihm ergriffen hatte, bewegte seine Knie und rutschte ihn unter die Beinstümpfen des Alten. Alex atmete langsam, tief und bewusst. Jeder Atemzug befreite und beruhigte ihn. Jede Handlung war heilig. Jede Handlung war Teil des Rituals. Er sprang in einen kalten See. Derjenige, der über Leben und Tod entschied, war Gott. Es gab kein Gesetz über ihm.
Er schloss die Augen und sah sich über den Baumkronen des Waldes schweben. Er öffnete die Augen wieder, rutschte mit den Knien die Matratze entlang, sodass er direkt auf dem Rücken des Alten saß.
Siehst du mich, Gott?
Aber Gott tat nichts.
Da war nichts, was über ihm stand.
Tu es doch, dachte er.
Aber da war nur Stille.
Ich wusste es, dachte er.
Derjenige, der über Leben und Tod entschied, war Gott.
Das Gesetz der Menschen war eine Erfindung. Von Hurensöhnen. Ihre Regeln und Urteile waren Fiktion.
Er atmete tief und langsam ein und aus, meditativ. Er wollte jede Kleinigkeit genießen, sich später an jedes Detail erinnern. Vielleicht darauf abwichsen. Er nahm das lederne Ende des Gürtels, fuhr mit den Fingerkuppen darüber. Er streckte die Zunge aus und leckte über das lederne Ende des Gürtels, vor und zurück, ließ den Geschmack des Leders in den Gaumen ziehen. Er atmete tief ein und aus. Er legte das lederne Ende des Gürtels vorsichtig an den Hals des Alten. Alexʼ Hände und Arme zitterten. Er wusste nicht, was er tat. Aber er wusste genau, was er tat. Er fühlte sich wie in einem seiner tilidingeschwängerten Träume. Alles kam ihm unreal, aber großartig vor. Ich bin großartig, dachte er. Er grinste einen Moment. Sein Herz pochte. Seine Haut kribbelte. Ich bin großartig, dachte er. Er spürte, wie Gott ihm unterstand.
Gott ist meine Hure.
Wie Gott ihn nicht mehr erreichen konnte; wie er mächtiger wurde als Gott. Sein Mund war staubtrocken. Er befeuchtete seine Lippen. Er wollte jede Handlung so lange wie möglich hinauszögern. Er wollte es genießen; wie ein gutes Essen oder eine Vergewaltigung. Er durfte alles tun, was er wollte. Wie die Ozeane, gab es keine Richter über ihm.
Er schob den Gürtel unter den Hals des Typen. Der Alte hustete laut auf, drehte den Kopf und öffnete die Augen. Alex nahm das Lederende auf der anderen Seite des Halses und führte es durch die Gürtelschnalle. Langsam und bestimmt. Wie er ein Kondom über seinen Schwanz zog. Das Große Etwas in ihm vibrierte. Ein elektrisierendes Gefühl, das er als Gotteskraft einordnete, strahlte durch seinen Körper. Er hielt mit der Linken die Gürtelschnalle, mit der Rechten wickelte er sich den Lederriemen um die Hand. Er begann, mit leichter Kraft daran zu ziehen.
Der Alte murrte laut, drehte den Kopf bis zum Anschlag, stützte sich mit der Hand ab und versuchte, sich auf den Rücken zu rollen.
»Du Köter«, sagte Alex. Er saß mit ganzem Gewicht auf dem Rücken des Alten. Er sagte es laut und bestimmt, wie es ihm gefiel. Da war kein Richter über ihm. Er war der Richter. Er war das Schwert, der Zeuger und Zerstörer alles Lebenden. Wie es ihm beliebte. Das großartige Gefühl durchstrahlte seinen Körper. Das Übergottstehende durchstrahlte seinen Körper. Das Etwas in ihm war etwas Großartiges. Er war großartig. Er hatte immer gewusst, wie besonders er war. Er befeuchtete sich die Lippen. Er wickelte den Lederriemen ein weiteres Mal um seine Hand, drückte mit der Linken gegen die Gürtelschnalle und zog etwas fester am Riemen. Er schnaufte, die angespannte Muskulatur seiner Arme zitterte. Der Alte versuchte sich zu wälzen, er röchelte. Der Alte bewegte sich wie ein Blinder, wie ein Ertrinkender. Alex biss die Zähne zusammen, zog am Riemen und drückte auf die Gürtelschnalle.
»Du Fotze«, sagte Alex.
Die große körperliche Anstrengung des Ziehens und Drückens führte dazu, dass Alex plötzlich große Angst durchfuhr; er dachte daran, was ihm bevorstünde, wenn er geschnappt würde; er zog fester am Riemen, verlagerte sein Gewicht nach vorne und presste die Lippen aufeinander. Der Alte stützte sich mit einer Hand auf der Matratze ab, versuchte, sich auf den Rücken zu wälzen und atmete tief, brüllend und röchelnd ein und aus. Der Alte fasste mit der Linken hinter sich, packte Alexʼ Arm, zog und kratzte panisch daran.
Je fester Alex zudrückte und zog, desto mehr fiel Alexʼ Aggression, seine Niedergeschlagenheit, seine Rastlosigkeit und das Gefühl, versagt zu haben, von ihm ab. Je mehr er den Alten strangulierte, desto mehr war das Etwas in ihm; das Etwas, das er selbst war. Das Übergöttliche. Auf eine seltsame Art wartete Alex auf das Eingreifen Gottes; aber da war kein Gott. Je mehr er den Alten strangulierte, desto mehr entfernte Alex sich von der Welt. Desto mehr sah er sich wie in einem Heißluftballon über die Baumkronen des Waldes schweben. Das Prickeln durchfuhr seinen Körper. Der Alte packte ihn mit der Rechten am Arm; er bohrte die Fingernägel in sein Fleisch. Der Alte atmete tief und röchelnd ein und aus.
»Du Köter«, sagte Alex. Wut stieg wieder in Alex auf; er wurde so wütend, dass seine Hände und Arme fast fuchtelnd zitterten. Er wusste, dass er es zu Ende bringen musste. Dieses Etwas in ihm flackerte, wie eine von Wind gepeitschte Flamme. Du musst es zu Ende bringen, sagte es. Du bist großartig, sagte es. Wer will dir im Weg stehen, wenn nicht einmal Gott es kann? Er war der Zerstörer des Gesetzes. Nicht einmal Gott war so frei wie er. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Niemand würde ihn kriegen. Er war großartig.
Der Alte ließ von seinem Arm ab, stemmte seine Hand auf die Matratze und versuchte sich wieder auf den Rücken zu rollen.
»Du Köter«, sagte Alex. Er beugte sich so über den Alten, dass sein komplettes Körpergewicht auf ihm lag. Der Alte schlug mit einer Handbewegung nach hinten und erwischte Alex mit der Kralle am Auge.
Da war nichts außer ihm und dem Alten.
Alexʼ Hände waren taub, angeschwollen und zitterten wie irre; Schweiß lief ihm kitzelnd die Schläfen, den Rücken und Brustkorb hinab; Alex musste schwer atmen, um den Alten unter sich zu halten. Er war wie ein Charro, der auf dem Gottseeligen ritt. Er war wie Kain, der auf Abel schlug.
»Mein ist die Kraft«, sagte er.
Er wusste nicht, wieso er das sagte.
Er war erstaunt, wie lange der Alte unter ihm durchhielt; wie viel Kraft der Alte besaß. Er redete sich ein, stärker als der Alte zu sein. Der Gedanke, den Zweikampf gegen den Alten zu verlieren und dem Alten unterliegen zu können, nahm Alex das großartige Gefühl, über den Dingen zu stehen. Für einen Augenblick sah er die Möglichkeit, selbst im Kampf gegen den Alten zu sterben. Der Gedanke, sein eigenes Leben hierbei zu verlieren, bereitete ihm einen neuen Schub des elektrisierenden, belebenden Gefühls.
»Mein ist die Kraft«, sagte Alex. Das Übergöttliche durchfuhr ihn. Auf dem Alten zu sitzen und ihn mit dem Ledergürtel zu würgen war wie die blutige Geburt der Jungfrau Maria.
»Du Schwein«, sagte Alex. Er wickelte den Ledergürtel ein weiteres Mal um seine Hand, stellte seinen linken Fuß auf die Matratze und zog mit aller Kraft am Riemen, während er mit der anderen Hand auf die Gürtelschnalle drückte. Er schnaufte so stark, dass er kaum mehr Luft bekam. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen. Kalter Schweiß lag auf seinem Gesicht, seinen Armen, Händen und seinem Brustkorb.
Der Alte röchelte, schlug und kratzte mit den Händen hinter seinen Rücken. Er traf Alexʼ Bein und Unterbauch.
Schließlich – nach zwanzig oder dreißig Sekunden – entfuhr dem Alten ein gurgelndes Röcheln, gefolgt von einem Zucken; der Alte zog die Arme auf der Matratze auf Kopfhöhe; schließlich zuckte der Alte; einmal, zweimal; dreimal: Als ob er sich erschrecken würde. Röcheln drang aus seinem Mund. Jede Spannung fiel aus dem Körper des Mannes. Der Alte blieb wie eine Puppe mit verdrehten Gliedmaßen auf der Matratze liegen, die Arme krumm von sich gestreckt, den Kopf unnatürlich mit dem Gesicht ins Polster vergraben.
Alex saß auf ihm. Einen langen Moment – vielleicht vierzig oder fünfzig Sekunden – strangulierte er den Mann weiter mit dem Gürtel. Alex blies vor Anstrengung die Backen dick und pustete Luft aus, schnappte nach Sauerstoff. Nie hätte er gedacht, dass es so anstrengend wäre, einen Menschen auf die Art totzumachen.
Er ließ den Gürtel los. Er atmete schnell, tief und schnappend ein und aus. Das elektrisierende, aufputschende Gefühl durchfuhr ihn. Er dachte: Ich bin größer als Gott. Er dachte: Ich bin dein Gott. Er spürte, dass er in Freiheit war. Dass das Etwas, das ihn gepackt hatte, seinen übergroßen Hunger gestillt hatte.
Sein Herz pumpte. Er rollte vom Alten. Er lag rücklings auf der Matratze neben dem Mann; Alex keuchte vor Anstrengung – seine Hände und Arme taub, Schweißperlen rannen seine Stirn, seine Wangen, seinen Hals und seine Arme hinab. Er hatte ein Tier erlegt. Er war ein Jäger, der ein Mammut erlegt hatte. Er war der Gott der Bäume. Er war der römische Legionär, der Gott – zu Fleisch geworden – voller Lust ans Kreuz nagelte. Er sah den Ozean; er sah die Weite und Stille, spürte die Kühle der endlosen Menge Wasser auf seiner Gesichtshaut. Er spürte, wie Gott nicht mehr an ihn heran kam. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Da war niemand über ihm; bei dieser Erkenntnis lachte Alex laut los. Er streifte sich mit den Handflächen über das Gesicht, durch das strohblonde Haar. Er war Gott. Sein Gesicht voller entzündeter Aknepusteln.
Er sah zum Alten; der lag regungslos mit dem Gesicht in der Matratze vergraben neben ihm; die Arme verrenkt über sich gestreckt. Alex roch den Schweiß-, Urin-, Erd- und Blutgeruch des Alten. Er vermutete, dass beim Strangulieren Blut aus dem Mund oder den Schürfungen des Alten gekommen sei.
Alex wischte sich mit den Händen den Schweiß aus dem Gesicht. Er keuchte. Er lächelte. Er streckte die Hände aus und betrachtete seine Handflächen. Das Blut des Risses unter seinem Auge klebte kirschrot an seinen langen, knochigen Fingern und dem Handteller.
Alex schloss die Augen. Er sah sich über die Baumkronen des Waldes schweben. Tiere sangen und Menschen beteten zu ihm. Der Gedanke, jedes Menschen- und Tierleben vernichten, quälen, verletzen oder misshandeln zu können, nach jeder Laune, die er hatte, ohne jemals irgendeine Konsequenz ertragen zu müssen, erlöste und beruhigte Alex auf eine grundlegende, unerklärliche Art. Er atmete tief und genüsslich ein und aus. Er lachte wieder. Etwas Unglaubliches war von ihm abgefallen. Alex lag dort, auf der Matratze, lächelnd, mit geschlossenen Augen, schob sich die Hände unter den Kopf. Adrenalin raste durch seine Venen. Die große, körperliche Anstrengung, die hinter ihm lag. All die Schwere, die wie Bleikugeln in seinem Inneren gelegen waren – seine Mutter, sein Vater, Shaun, Anna, das Kind; das bösartige Etwas in ihm; die Gänge, die Sozialbauwohnungen – waren nicht mehr Teil seiner selbst. Diese Dinge lagen im Wald unter ihm, über den er schwebte. Der Raum, in den er durch das Strangulieren und Hinrichten des Alten transzendiert war, lag abseits der Gesellschaft, abseits von allem. Er spürte, wie er sich in diesem neuen, abseitigen Raum befand. Nicht einmal Gott konnte ihn dort greifen. Dort, in diesem Raum, war er eine Person, dessen Kern warm, schwingend und vibrierend mit seiner innersten Natur harmonierte. Er lag auf der Matratze und lächelte. Er konnte tun und lassen, was er wollte, dort, im Raum neben der Gesellschaft. Er wusste, dass er mächtiger war als Gott. Er wusste, dass sich sogar Gott vor ihm fürchtete. Er fühlte sich unangreifbar und vollständig.
Mit 27 Jahren, nach den 23 Morden, die er noch verüben sollte, würde Alex einem Focus-Reporter erzählen, dass er in jenem Moment – dort schnaufend und schwitzend auf der Matratze neben dem Mann ohne Beine – das erste Mal das rauschhafte Gefühl von absoluter Freiheit empfunden hatte; dass er sich in diesem Moment das erste Mal so nah bei seiner innersten Natur fühlte, dass selbst Gott nicht freier und befriedigter war als er.
Alex setzte sich an den Rand der Matratze, streifte sich durch die Haare. Er stand auf, lief die Treppenstufen hinunter ins Erdgeschoss, ging in die Küche. Es war wie Sex. Roh, hart und brutal. Wie er es immer wollte. Er öffnete die Kühlschranktür, nahm sich aus dem Fach eine Packung Milch, öffnete den Drehverschluss, roch hinein und trank anschließend tiefe Schlucke. Als er die Milchpackung absetzte, wischte er sich mit der Hand über den Mund. Er blickte durch das Fenster. Der Morgen graute, ein azurblauer Himmel färbte sich aus dem Schwarz der Nacht über den Baumkronen des angrenzenden Waldes.
Er schloss den Kühlschrank, lief durch die Küche und öffnete eine Schranktür nach der anderen. Schließlich griff er im Fach oberhalb der Spüle nach einer Dose Thunfisch. Die Wellensittiche in den Käfigen auf den Schränken und dem Kühlschrank bewegten ihr Gefieder; er hörte ihre Krallen über den Sandboden tappen und ihre Schnäbel ins Käfiggitter beißen. Ein oder zwei Vögel piepsten. Durch den Zugring der Thunfischdose steckte er seinen Finger, öffnete den Verschluss. Er sah hinauf zu den Vögeln. »Pieps pieps«, sagte er. Er aß die Fischstücke hastig und schlingend, mit den Fingern, im Stehen. Er sah hoch zu den Wellensittichen. »Ihr Fotzen«, sagte er.
Er schob einen Stuhl an den Kühlschrank, stieg darauf, griff in die Thunfischdose, pulte ein paar Stücke Fisch heraus und drückte sie durch das Käfiggitter. Er fühlte sich, als sei ein großer Druck von ihm gefallen. Zu seinem Erstaunen spürte er keine Reue. Wann hatte er sich jemals so ausgelassen gefühlt? Er überlegte, noch einmal hoch zu dem Alten zu gehen, um ihn sich anzusehen.
Er stieg vom Stuhl, ging zum Waschbecken und trank wie ein Köter aus der Leitung. Er fühlte etwas Großes in sich. Es machte ihn glücklich, zu wissen, dass er großartig war. Seine Ohren rauschten. Er streckte sich. Er war so müde. Er hatte das seltsame Verlangen zu tanzen. Im Heim hatte er einen Tanzkurs besucht, in dem er mit Anna und ihren Freundinnen RockʼnʼRoll, Walzer und Two Step getanzt hatte.
»Pieps pieps«, sagte er. Die Wellensittiche piepsten, lugten ihn an. Was für ein großartiger Tag, dachte er.
Im Geräteschuppen des Alten fand er ein altes Rennrad an der Wand hängen; auf den Gepäckträger schnallte er seinen blau-gelben Kapuzenpulli, schob das Rad im Morgengrauen auf die mit Schlaglöchern und Erdklumpen übersäte Hauptstraße, blickte nicht zum Haus zurück, streifte sich durch das blonde, verwachsene Haar, zog Schleim aus dem hinteren Teil seines Rachens, rotzte auf die Straße und fuhr los.
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Shaun schlief, zusammengekauert in der Couchecke, in seiner löchrigen Jogginghose und dem weiten, ausgeblichenen EA-Games-T-Shirt. Sein Mund stand leicht geöffnet; weiße Flaumhärchen auf seinen Wangen, seiner Stirn. Hunderte Sommersprossen punktierten sein Gesicht vom Kinn bis zur Stirn, wie ein Ausschlag, eine Krankheit. Seine Haare standen fettig und ungeschnitten vom Kopf ab.
Der Röhrenfernseher lief. Irgendeine Quizshow. Alex hielt die Fernbedienung in der Hand; die geilen Weiber, die in kurzen, grellen Röcken neben dem Moderator standen. Was interessierte ihn, Alex? Nichts interessierte ihn. Er gähnte. In der Hand hielt er eine Dose Ja!-Colamix.
Er fühlte sich so zufrieden. Er streckte sich, griff in seine Hosentasche und zündete sich eine weitere Pall Mall an.
Er war so ruhig. Er war so ausgeglichen. Das Strangulieren und Hinrichten war wie ein neues Hobby, das Alex für sich entdeckt hatte. Er genoss den Gedanken, in ein paar Tagen – wenn es ihm beliebte – über ein erneutes Töten nachzudenken. Er dachte an das rauschhafte, mächtige Gefühl, das er beim Strangulieren und Hinrichten des Alten hatte; das Nachgefühl dieser Welle vibrierte noch in seinem Körper. Allein der Gedanke an ein erneutes Töten trat das euphorisierende, übergottstehende Gefühl in ihm los.
Er zog an der Zigarette, lächelte. Das Strangulieren und Hinrichten war wie das beste Videogame, das er je gespielt hatte. Er fühlte keine Reue. Kein schlechtes Gewissen. Beim Gedanken an das Töten eines anderen Menschen – vielleicht Shaun? Vielleicht seine Mutter? Vielleicht Anna, ihre Cousine oder das Kind? – empfand er das triumphale, großartige Gefühl, über den Dingen zu stehen; etwas Besonderes zu sein; etwas, an das andere nie heran kommen würden; etwas, das andere vielleicht nie verstehen könnten. Er wusste, dass er besser war als andere. Er war hässlich und er war dumm. Am Montag würde er sich wieder einen Job suchen. Er würde Stahlgerüste aufbauen, Kies schaufeln oder eine der dummen Programme des Jobcenters mitmachen. Er würde in irgendeinem nach Schimmel stinkenden, fensterlosen Raum sitzen und Teile zusammenkleben.
Aber er hätte das Töten. Er würde sich eine dumme Schlampe oder einen netten Azubi greifen. Vielleicht auch einen Wichser von Kapo. Er würde sich genüsslich überlegen, wie und wann er ihn totmachen würde. Er würde sich das Totmachen wieder und wieder vorstellen, würde sich jedes Detail vor dem Schlafengehen vorstellen: das Greifen, das Würgen. Vielleicht würde er darauf wichsen. Immer wieder. Er würde sich das Totmachen wieder und wieder vorstellen – so lange, bis er es nicht mehr aushalten würde; so lange, bis der Druck zu groß werden würde. Wie bei einem Orgasmus würde er den äußersten Punkt hinauszögern, um die großmöglichste Lust daraus zu ziehen. Er würde das elektrisierende, übergottstehende Gefühl und den Abfall eines jeden Druckes, dieses grenzenlose, großartige Gefühl, wieder und wieder haben wollen.
Vielleicht würde er ein Kind auf der Straße mit dem Schulranzen nach Hause gehen sehen und es spontan totmachen. Er hätte den Alten gerne gefickt, als er ihn strangulierte. Er dachte, dass er als Nächstes eine Tussi totmachen und sie davor ficken würde. Vielleicht würde er auch Shaun ficken. Und totmachen. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Er war der König der Bäume.
Alex lächelte, zog an der Zigarette, sah auf den blau, gelb, rot und schwarz flimmernden Röhrenfernseher und strich sich durch das gelbe, fettige Haar.