Grillfest

Vormittags parkt meine Mutter auf einem der Parkplätze vor dem Wohnhaus. Vom Küchenfenster aus sehe ich sie aus dem Wagen steigen. Sie streift sich durch die kurzen, rot getönten Haare. Sie wird 59 dieses Jahr. Sie steht auf dem Gehweg neben dem Wagen und trägt noch ihre Arbeitsklamotten: das blau-weiße Namensschild von Decathlon, das an ihre Bluse gepinnt ist. Sie arbeitet halbtags als Verkäuferin, wenn sie nicht gerade krankgeschrieben ist.

»Hi, Mutter«, sage ich. Auf dem Gehsteig umarmen wir uns. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich. Eine kräftige Frau; kräftig in ihren Umarmungen. Ich bin ihr sechsundzwanzigjähriger Sohn.
»Hallo«, sagt sie.
»Geht’s dir gut?«, frage ich.
Sie sieht mich an, nickt und sagt: »Ja.« Ihre Augen sind bernsteinfarben.
»Kannst du fahren?«, frage ich.
»Ja, klar«, sagt sie. Mit dem Schlüssel in der Hand läuft sie zur Fahrertür. »Steig ein«, sagt sie. Sie ist immer so stark. »Wir fahren«, sagt sie.

Meine Tante wohnt eine Dreiviertelstunde die Landstraße entlang durch Wälder, im Bauernhaus meiner Großeltern und neben einer geschlossenen Metallwarenfabrik. Deutschlandfahnen auf den Dächern der Nachbarhäuser. Ein Klärwerk und eine Kirche am anderen Ende der Straße. Ansonsten nichts als Forst, so weit das Auge reicht.

Wir stehen mit dem Geschenkkorb vor dem rostbraunen Hoftor und drücken die Klingel. Meine Tante öffnet das Tor, sieht mich, lacht und ruft: »Du bist dabei!«
»Ja«, sage ich und lächle.
»Heb mich hoch«, sagt meine Tante.
Ich stelle den Geschenkkorb ab, umarme meine Tante lächelnd und hebe sie dabei hoch.
»Ja«, sagt meine Tante. »Noch mal«, sagt sie.
Ich umarme sie noch mal und hebe sie hoch.

Mein Onkel steht im hinteren Teil des Hofes, neben dem Hundezwinger, am Grill. Er trägt abgeschnittene Jeans und ein warnwestengelbes Tanktop. Das Tribal-Tattoo an seinem Hals ist verlaufen. Seine Augen sind eisblau und sein Haar blond und halblang. Er hebt lächelnd die Hand. Wir schlagen miteinander ein. Meine Mutter und meine Tante gehen schwer mit den Geschenkkörben beladen die Treppenstufen hinauf zur Haustür.
»Bier?«, fragt mein Onkel. Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Kühlbox, die mit Eis und braunen Flaschen gefüllt ist.
»Eins kann ich trinken«, sage ich. Mein Onkel blickt mich einen Moment auf diese Art an: Als ob ihm etwas lange Vergessenes wieder eingefallen wäre.
»Lass die Frauen mal reden«, sagt mein Onkel. Er trinkt einen Schluck seines Bieres, zieht an seiner Zigarette, blickt in die Grillwanne und schiebt mit der Zange halbweiße Kohlestücke hin und her.

Als ich auf die Toilette gehe, sehe ich durch den Türspalt meine Mutter und meine Tante in der Küche stehen. Ich sehe, wie sie an die Arbeitsfläche anlehnen: Wie sie nah beieinander stehen, nicken, die Arme verschränkt, und Worte zueinander sagen.

Zuhause läuft meine Mutter sofort ins Wohnzimmer und legt sich in ihren Sessel. Die Übelkeit kam schon im Auto. Ich bringe ihr aus dem Eisfach eine ihrer Kühlpads.
»Danke«, sagt sie mit geschlossenen Augen und legt es sich auf die Brust. Meine Mutter sitzt einen langen Moment so da; in ihrem Sessel, die Füße hochgelegt, mit dem Kühlpad in der Hand auf ihrer Brust. Ihr graues, faltiges Gesicht. Die braunroten, getönten Haare. Ihre Bluse, ihre Stoffhose.

In der Küche schalte ich die Klimaanlage ein, dann den Ventilator. Die Hitze staut sich an solchen Sommertagen. Durch das gekippte Küchenfenster höre ich Grillen zirpen.
»Alles in Ordnung, Mama?«, rufe ich von der Küche aus ins Wohnzimmer.
»Alles in Ordnung«, ruft sie zurück.
Ich gehe wieder ins Wohnzimmer, zum Sessel, und lege meiner Mutter vorsichtig von hinten meine Arme um den Hals. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Backe und sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Endlich ist mal wieder jemand da«, sagt meine Mutter, mit dem Kühlpad an ihrer Brust. Sie sitzt im Sessel, regungslos und mit geschlossenen Augen.
»Wie geht’s dem Herz?«, frage ich leise.
»Es pocht«, flüstert sie.

Oben im ersten Stock überziehe ich mein Bett mit frischen Laken. Auf dem Nachttisch liegt ein Stück Papier, auf dem steht: »Ich war hier, wo waren Sie, mein Herr? Deine Tante«

Am Fenster rauche ich eine Zigarette, anschließend steige ich die Treppe zum Dachstuhl hinauf. Sein Zimmer ist unangerührt. Der Teppich gesaugt, kein Staub auf Spiegel oder Oberflächen. Fernseher, Schreibtisch, ein paar seiner Marketing-Bücher. Sein Bett voll mit Kissen, Fotos und kleinen Dingen, die ihm meine Mutter und Tante von Ausflügen mitgebracht haben: Eine Postkarte aus Koh Samui, ein Schlüsselanhänger von einer Betriebsfeier. Mit Wachsstiften gemalte Bilder von Sonne und Stränden. Ich setze mich auf den Schreibtischstuhl. Aus dem Fenster sehe ich den dunkelnden Himmel. Von unten höre ich den Fernseher laufen.

Um Mitternacht setzen wir uns noch mal in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. Aus dem Kühlschrank hole ich die Schüssel mit den Resten des Grillfleisches, dazu Salat, ein Knoblauchdip, Kräuterbaguette und Ketchup.
Meine Mutter sitzt im Nachthemd am Tisch, mit geradem Rücken, und hat die Augen geschlossen.
Wir essen beide ein paar Bissen, als sie mich plötzlich ansieht und fragt: »Rauchst du noch?«
»Manchmal«, sage ich. Ich kaue und schlucke, das Baguette in der Hand.
»Ich will eine«, sagt sie, ohne mich anzusehen, und beißt in das Stück Steak auf ihrer Gabel.
»Und dein Herz?« Ich blicke zu ihr.
»Ist mir egal«, sagt meine Mutter, schneidet ihr Steak und führt sich die Gabel in den Mund.

Durch die Verandatür steigen wir in den dunklen Garten. Der Rasen ist hoch gewachsen. Wir setzen uns in die weißen Plastikstühle neben der Hecke. Stapel von Pappkartons und Dinge wie das alte Aquarium meines Vaters und der kaputte Wäschetrockner stehen schulterhoch gestapelt auf der Terrasse.
Ich halte ihr über den Gartentisch das Feuer hin, anschließend zünde ich meine Zigarette an. Wir rauchen wortlos, langsam. Nur das Geräusch unseres Atems, unserer sich bewegender Hände; die zirpenden Grillen in der Hecke und die vorbeirauschenden Autos auf der Hauptstraße. Unsere Gesichter in Schatten, nur die leuchtende Glut, die von Zug zu Zug knisternd aufglimmt und unsere Blicke für einen Moment sichtbar macht.
»Das war gut«, sagt meine Mutter. Sie drückt den Filter in den Aschenbecher.
»Ja«, sage ich.
»Das hätte ihm auch gut gefallen«, sagt sie. »Dass wir das hier gemacht haben.«
»Ja«, sage ich. »Das hätte ihm auch gut gefallen. Solche Sachen hat er immer gerne gemocht.«

Nachts wache ich auf, weil meine Mutter an meiner Bettkante sitzt. Sie hält meine Hand und blickt mich an. Durch das Fenster sehe ich den schwarzen Nachthimmel grauen. Grillen zirpen so laut, dass ich sie für ein Relikt meines Traumes halte; aber sie sind hier, sie sind echt.
»Wie geht’s dem Herz?«, frage ich und reibe über meine Augen.
»Gut«, sagt meine Mutter. Sie hält meine Hand mit beiden Händen. Sie blickt mich im Halbdunkeln an. Dann verzieht sich ihr Mund und schließlich ihr Gesicht.
»Ach Mama«, sage ich. Ihr Blick senkt sich. Ich fahre ihr mit der Hand über den Rücken. Wir haben sie als Kinder nie weinen sehen. Ich setze mich auf. »Komm mal her«, sage ich. Ich nehme sie in den Arm. Ich wiege sie hin und her, dort in der Dunkelheit.
»Alle feiern«, sagt meine Mutter. »Ich verstehe nicht, wie alle feiern können.« Sie sagt: »Ich verstehe nicht, wie alle so tun können, als ob nichts gewesen ist.«
»Ja«, sage ich.
Sie weint weiter und hält meine Hand.
»Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich mit ihm auch dich verloren hab«, sagt sie.
»Aber ich rufe dich doch jede Woche an«, sage ich. »Ich bin doch fast jedes Wochenende hier«, sage ich.
»Ja«, sagt meine Mutter. »Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich gar nicht weiß, was du machst. Dass ich gar nicht mehr weiß, wer du bist.«
»Aber ich erzähle dir doch alles«, sage ich. »Ich weiß nicht, was ich dir sonst noch erzählen soll. Ich erzähle dir alles, was ich mache. Ich mache nicht mehr«, sage ich. »Ich bin ein langweiliger Mensch«, sage ich.
»Ja«, sagt meine Mutter. Sie fährt sich über die Augen.
So sitzen wir noch eine Weile da. Ich hinter ihr auf der Matratze, meine Arme um sie. Sie mit ihrer Hand in meiner Hand und ihrer anderen Hand an meinem Arm. Sie weint. Ich weiß nicht, wieso, aber ich wiege sie hin und her. Wie schwerer Wellengang. Wie meine Mutter, die in der Dunkelheit im Ozean schwimmt. Wie ich, an dem sie sich klammert, damit sie nicht ertrinkt. Alles ist dunkel in meinem Zimmer. Ein Auto fährt auf der Hauptstraße entlang, der Motor schaltet hoch, die Scheinwerfer blitzen auf.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagt meine Mutter.
»Aber ich erzähle dir doch alles«, sage ich. »Ich weiß nicht, was ich dir noch erzählen soll. Ich erzähle dir alles, was ich mache«, sage ich.
Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.