Richtfest

Nach dem Richtfest kamen sie vor das Haus; auf dem Rasen blieben sie stehen. Eine lange Metalltreppe führte hoch in den Neubau, der als weiteres Stockwerk auf das bestehende Haus gesetzt worden war. Von draußen sahen sie die bunten Lichter einer Diskokugel an den Wänden kreisen.
„Ich will da nicht rein“, sagte sie. Sie hielt einen aufgespannten, gelben Regenschirm in der Hand; außerdem trug sie einen gelben Schal und eine gelbe Stoffmütze. Ihre Daunenjacke war aufgeplustert.
„Mach dich nicht lächerlich“, sagte er ohne sie anzusehen.

Oben im Rohbau traten sie sich die Schuhe ab. Die Fenster und Türen waren bereits eingebaut. Es war warm. Ein anderer Teil des Anbaus war schon fertig; die Familie wohnte längst darin.
Sie standen am Eingang, in ihren Jacken. Bierbänke waren in einer Linie aufgestellt. Ein Dutzend Menschen standen und unterhielten sich; Kinder liefen zwischen den Erwachsenen umher. Neben den Bierbänken stand ein weiterer, kleinerer Holztisch mit niedrigen Bänken. Auf der Anlage lief Metal.
Eine Frau mit tätowiertem Hals und Metalshirt kam auf sie zu. „Kommt ruhig rein“, sagte sie lächelnd und machte eine einladende Geste. „Setzt euch.“
Sie lächelten und nickten.
Seine Frau drehte sich zu ihm und sagte: „Lass uns gehen.“
Er zog die Augenbrauen hoch, ohne sie anzublicken.
Er zog seine Jacke aus.
Sie sagte: „Aber zurück fährst du.“

Sie setzten sich auf die Bierbank. Als er sich zu seiner Frau drehte, sah er, dass sie noch ihre Daunenjacke, die Mütze und den Schal trug.
„Meine Güte“, sagte er, „willst du dich über mich lustig machen?“
Sie sah ihn nicht an, blickte vor sich.
Er streifte sich durchs Haar.
Pärchen standen hinter und vor ihnen; gegenüber saßen zwei Männer und eine Frau. Kinder wuselten zwischen ihnen.
Er sah zu seiner Frau, aber sie blickte über den Tisch.
„Ich hole uns etwas“, sagte er und stand auf.
Er kam mit zwei Papptellern in den Händen zurück, auf denen jeweils ein Stück Erdbeertorte und ein Löffel lagen.
„So“, sagte er lächelnd. Er stellte den Pappteller vor seine Frau und setzte sich.
Sie nahm den Löffel in die Hand, stach in die Erdbeertorte und zerteilte sie in der Mitte.
Er drehte sich um, zu dem kleinen Holztisch hinter ihm. Vier Kinder saßen mittlerweile an ihm; zwei Jungen und zwei Mädchen. Die Mädchen hatten lange, blonde Haare, und von den Jungs sah er nur die Hinterköpfe.
„Und ihr seid der Kindertisch?“, sagte er lächelnd.
„Ja“, sagte das Mädchen.
Als er sich zurück drehte, sah er, dass seine Frau die Erdbeertorte in ein Dutzend kleiner Teile quer über den Pappteller zerhackt hatte; und er wurde Zeuge davon, wie sie ein kleines Stück nach dem anderen auf den Löffel lud und sich – er fand keine anderen Worte hierfür – schlingend in den Mund schob.
„Meine Güte“, sagte er, „willst du uns lächerlich machen?“
Sie schlang einen Bissen nach dem anderen vom Pappteller; Schlagsahne hing ihr an den Lippen und am Kinn, Pudding an den Fingern.
Sie schnaufte und schmatzte.
Sie legte den Löffel ab.
„Hol mir gleich noch eins“, sagte sie.
„Gottes Willen“, sagte er. Sie blickte ihm jetzt in die Augen; mit einer Vehemenz.
Er stand auf, ging zum Buffet und kam mit einem neuen Pappteller und Tortenstück zurück.
Sie schob den alten Teller zur Seite und legte den neuen vor sich. Sie fixierte das Tortenstück, noch mit der Sahne im Gesicht. Sie zerteilte mit dem Löffel das Biscuit und Gelee, und begann ebenso, sich die zerhackte Torte in großen, schnellen Bissen in den Mund zu löffeln.
Sie kaute und schnaufte, Schlagsahne hing um ihren Mund und Gelee klebte an ihren Fingern.
Sie legte den Löffel ab.
„So“, sagte sie, „jetzt können wir gehen.“

Im Auto prasselte der Regen gegen das Wagendach. Ihr Gesicht war klein, und in ihrer übergroßen Daunenjacke wirkte sie beinahe winzig. Er steuerte den Wagen vom Bordstein und lenkte ihn aus der Ortschaft. Der Himmel dunkelte. Sie waren gerade in den Wald gekommen, als er zu ihr rüberschaute und sah, dass sie den Löffel noch in der Hand hielt.
„Herrgott“, sagte er, „verfickt noch mal, was machst du da?“
Sie saß auf dem Beifahrersitz, angeschnallt, und blickte nicht zu ihm, sondern durch die Windschutzscheibe.
Ihre Hand war zur Faust geballt, und inmitten dieser Faust hielt sie den Löffel wie einen Dolch.
Er blickte unruhig von der Landstraße zum Löffel. „Jetzt müssen wir noch mal zurück“, sagte er, „wieso hast du das gemacht?“
Er sah ihr ins Gesicht, aber sie blickte nicht zu ihm.

Vor dem Haus hielten sie am Bordstein. Die Lichter der Diskokugel kreisten noch an den Wänden. Sie sahen die Köpfe von Erwachsenen und Kindern durch die Fenster und Balkontür.
Und dann, innerhalb weniger Sekunden, ehe sie ausgestiegen waren, sahen sie Rauch von der anderen Seite des Daches aufsteigen. Der Rauch war schwarz und stieg fadenförmig in den grauen, tief hängenden Himmel, wie etwas Lebendiges, wie der Dunst einer Flüssigkeit, die sich, von der Bausubstanz des Hauses gelöst, nun Richtung Himmel enthob.
Die Haustür wurde geöffnet. Die Köpfe von Erwachsenen und Kindern eilten unter dem Licht der Diskokugel durch den Rohbau. Eine Frau mit einem Mädchen an sich geklammert hetzte durch die Tür und die Metalltreppe hinab. Selbst im Auto konnten sie die Stimmen der Menschen hören. Aus der Anlage lief Metal. Der Rauch stieg dichter und großflächiger vom Dach. Sie sahen, wie ein Mann in Birkenstock mit einem Kind auf dem Arm die Treppe herunter eilte. Von innen drängten alle zur Tür.
„Mein Gott“, sagte er. Er streifte sich durchs pomierte Haar, und sie blieben ihm vom Kopf abstehen. Er zündete sich eine Zigarette an.
Sie sahen, wie ein Dutzend Gäste sich durch die Tür drängten. Andere standen unten auf dem Rasen und riefen etwas nach oben. Sie deuteten zum Dach. Kinder schrien und weinten. Langsam wie ein Nebel erhob sich der schwarze Rauch wie ein Geist vom Haus.
„Mein Gott“, sagte er, „das ist alles deine Schuld.“
Er zog an der Zigarette und sah durchs Seitenfenster. Sie saß neben ihm, den Löffel fest umklammert in der Hand auf ihrem Schoß. Sie legte ihr Gesicht in ihre Hand und weinte. „Hör auf“, sagte sie, „hör jetzt endlich auf damit.“
„Schau hin“, sagte er und blickte hinaus. Überall waren Kinder. Sie saßen auf dem Rasen, hingen an ihren Eltern. Ihre Gesichter waren vom Weinen aufgedunsen. Immer größer und dichter wurde die Fahne des Rauches. Auf der Treppe hatte sich eine Schlange gebildet, ein Stau der Heruntereilenden. Er kurbelte das Seitenfenster einen Finger breit herunter. Der Geruch von Holzkohle und das Schreien der Kinder drangen ins Wageninnere.
„Schau nur“, sagte er und zog an seiner Zigarette. Die Glut leuchtete auf, und in diesem Augenblick sahen sie die erste Flammenzunge auf der anderen Seite des Daches in die Dämmerung lecken. Überall waren Kinder. Auf dem Rasen standen und saßen sie, festgeklammert an die Körper ihrer Eltern. Die Laute ihres Weinens und der Geruch nach Holzkohle vermengten sich, wurden zu einer Sache, für die es keinen Namen gab. Sie nahm die Hand vom Gesicht, hob den Kopf und blickte durch das Autoglas. Ihre Wangen glänzten wie die verregneten Ziegelsteine des Daches. Den Löffel hielt sie umklammert in der Hand. Ihr Kinn bebte. Er kurbelte das Fenster einen weiteren Finger breit herunter, und das Weinen der Kinder klang ohrenbetäubend zu ihnen. Er sagte: „Das ist alles deine Schuld. Das ist alles wegen dir. Schau, was du angerichtet hast.“