Stagehands

Sergej steht vor dem Sprinter, mit der Zigarette im Mundwinkel, im Adidas-Trainingsanzug, Kapuze über dem Kopf und verteilt ʼne Runde Kippen. König nennen wir ihn. Es ist halb fünf, ich kann meinen eigenen Atem sehen. Faxe sitzt auf dem Fahrersitz, ein Bein aus der geöffneten Tür hängend, in der Hand ʼne Dose MONSTER. Zwei Studenten stehen noch mit den Händen in den Pullitaschen auf dem dunklen Kundenparkplatz von REWE und sehen rüber zu mir, wie ich mit meinem Rucksack um die Schulter entlang gelaufen komme. Neben ihnen steht der Alte, den wir hinter seinem Rücken Zange nennen, Rob, der keinen Spitznamen hat, vielleicht weil er schwarz ist oder weil niemandem was Dummes eingefallen ist; bis vor ʼnem Monat war Rob im Knast, ich weiß auch nicht genau, warum, vielleicht Körperverletzung oder BTM. Robs Vater ist Ami. Er selbst isʼ über einsneunzig, das viele Pumpen und ein wenig Stoffen lassen ihn aussehen wie The Rock. Über Robs rechter Augenbraue steht in klobigen Buchstaben tätowiert: T R U S T
»Ah«, sagt König, als er sich grinsend zu mir umdreht. »Rassie. Moi russki priatill.« Die Zigarette in seinem Mundwinkel leuchtet rot auf. Sergejs Nase ist platt und schief, seine Haare blond und kurz rasiert, seine Augen stechend und grün wie die Scherben einer Flasche Bier. »Messer-Pauli ist zu spät«, sagt Sergej. Er klopft mir auf die Schulter, zwinkert.
Ich spucke auf den Boden. »Nachui«, sage ich. »Sollen wir jetzt alle auf den warten?«
König zieht an der Zigarette, streckt den Rücken durch und blickt wieder mich an. »Kriegst schon früh genug Schaffe, bläd.«

Ich hab noch nie so viel Geld verdient. 1100 jeden Zwanzigsten, dazu Zuschläge: Wochenendaufschlag, Verpflegungspauschale. Ich fresse jeden Tag Burger King, Döner und Kentucky Fried Chicken, manchmal früh, Mittag, Abend. Wir gehen vier, fünf Tage auf Job. Den Rest hab ich frei. Wir arbeiten als Bühnenbauer, als Stagehands. Das heißt, wir fahren quer durchs Land, auf Messen, Konzerte und bauen Ton, Licht, Videoleinwände und Bühnendeko auf, manchmal stehen wir für ʼnen Fuffi bar Kralle vom Veranstalter auch ein bisschen Security.

Sergej ist fast zehn Jahre älter als ich, Anfang dreißig. Ich weiß, dass Sergejs Mutter letztes Jahr an Lungenkrebs gestorben ist und dass ihn seine Freundin vor nicht allzu lang abserviert hat. Angeblich hatte sie eine Fehlgeburt. Hat mir Rob The Rock erzählt, gleich nachdem er aus dem Knast draußen war.
Ich öffne die Tür des Sprinters. Auf der Mittelbank döst ein Mittvierziger der Alki-Fraktion: blonde, lange Dreadlocks, dreckige Finger. Daneben sitzt ein kleiner, kräftiger albanischer Mann mit Porno-Mustache und dem Namen Fisnik, der schon ein paarmal mit uns auf Job war, und zwei afrikanische Flüchtlinge, die letzte Woche Ärger gemacht haben sollen, die ich aber noch nicht kenne. Auf der Rückbank sitzt Steffi, streift sich eine Strähne ihrer blonden Haare hinters Ohr und lächelt mich an. Sie trägt ein viel zu weites Burzum-T-Shirt und Lippenpiercing.
»Servus Meister«, sage ich, nicke Fisnik zu und steige hinter zu Steffi. »Messer-Pauli ist zu spät«, sage ich und setze mich.
»Hast du nichts Besseres zu sagen«, sagt sie, schüttelt den Kopf, lächelt und dreht ihr Gesicht weg von mir, um aus dem Fenster zu blicken. Sie knabbert auf ihrem Lippenpiercing. »Du Spasti«, sagt sie, immer noch lächelnd, und trinkt aus ihrer MONSTER-Dose.
»Du weißt, ich kann keine Frau so zurück beleidigen«, sage ich. »Faxe, Meister, wann gehtʼs los?«, rufe ich nach vorne, öffne meinen Rucksack und ziehe mir eine Dose Speedmaster heraus.
»Scheiß Kanake«, sagt Steffi zu mir und blickt noch aus dem Fenster. »Russland«, sagt sie, schüttelt langsam den Kopf und trinkt aus ihrer MONSTER. »Wie dumm kann man sein.«
»Wir lieben uns«, sage ich grinsend, drücke die Dose ein und trinke ʼnen Schluck. »Du und ich. Isʼ nur noch nichʼ bis zu dir durchgekommen.«
»Vergisses«, sagt Steffi.
»Du bist meine Göttin«, sage ich grinsend.
»Geh weg«, sagt Steffi.
»Du willst Messer-Pauli«, sage ich.
»Halt die Fresse«, sagt Steffi und schlägt mir mit dem Handrücken gegen den Oberschenkel, den Blick noch aus dem Fenster.

Von allen Kollegen ist Messer-Pauli der seltsamste. Ich schätze, er ist 34. Vielleicht ist er auch 30. Oder noch jünger. Steffi meint, er hat ein außergewöhnlich hübsches Gesicht. Würde man nur sein Gesicht sehen, würde man wahrscheinlich nicht checken, was mit ihm los ist. Er ist hager, fast so groß wie ich, trägt die langen, blonden Haare auf dem Hinterkopf zum Zopf. Er trägt so eine Ray Ban-Brille. »Er wohnt noch bei seiner Mama«, hat Steffi erzählt. »Ich weiß nichʼ, wie das geht, aber ich glaub, die schlafen da noch im selben Bett. Da gabʼs nur ein Schlafzimmer, als ich dort war. Und zwei Decken, zwei Kissen.«
Natürlich hab ich laut losgelacht. »Laber nicht«, hab ich gesagt. »Du verarschst mich.«
»Mach dich nicht über ihn lustig«, hat Steffi gesagt. »Ich meinʼs ernst«, hat sie gesagt und mir ihren Finger ins Gesicht gehalten. »Russland, du Arschloch. Ich ficke dich, wenn du das erzählst. Ich ficke dich in jedem Bestandteil. Ich ficke deine ganze Sippe und deine ganze saudumme slawinistische Kultur. Mit euren beschissenen Jogginganzügen.«

Messer-Pauli steigt als letzter ein. Faxe hat den Motor schon angeschmissen, da seh ich ihn durch das Laternenlicht über den Parkplatz schlurfen. Als er die Schiebetür öffnet, dreht sich Faxe mit blutrotem Kopf um und schreit: »Fünf vor haben wir gesagt!« Dann: »Mann, ey! Dir ist dein Job schon wichtig, oder?«
Messer-Pauli blickt Faxe einen Moment regungslos an, dann greift er an die Karosserie, steigt wortlos ein, schultert den Rucksack ab und schiebt die Tür zu. Im Wagenlicht sehe ich an seiner Gürtelschlaufe an einem Karabiner ein Gipserbeil hängen. Er setzt sich vor mich, streift sich mit beiden Händen über den Kopf, bis hinter zum Zopf. Beim Anschnallen wirft er mir nur einen kurzen Blick zu, aber an seinen weit aufgezogenen, glasigen Augen weiß ich gleich Bescheid, dass er schon ordentlich auf Amphe ist.
Faxe lässt den Motor hochdrehen, dann rollen wir über den Parkplatz. Als wir auf die Straße biegen, schlägt Faxe mit der flachen Hand und aller Kraft dreimal aufs Lenkrad. Keiner sagt was, und erst, als wir ein ganzes Stück auf der Autobahn sind, ist der Schock vergessen.

Es wird langsam hell draußen.
Die Autobahn zieht an uns vorbei.
Steffi ist eingeschlafen. Sie hat die Arme verschränkt und liegt mit der Kapuze über dem Kopf an die Fensterscheibe gelehnt.
Faxe lässt leise Rockabilly auf der Anlage laufen.
Vorne, auf dem Display der Mittelkonsole, steht: 6:40.
Alle pennen. Nur König sehe ich vorne auf seinem Sitz mit dem Fuß dribbeln. Das Licht des Handydisplays leuchtet in sein Gesicht. Die Luft ist abgestanden und die Klimaanlage surrt.

Wir kommen an der Konzerthalle an.
Faxe parkt bei den Trucks.
Messer-Pauli zieht die Schiebetür auf. Alle strecken sich auf dem Parkplatz. Mein Atem kondensiert. Die Sonne scheint leicht über die Bäume des angrenzenden Waldes. Ich bin verdammt müde. Der Asphalt glänzt gefroren. Ich zünde mir eine Gestopfte an. Steffi eine Selbstgedrehte. Zange raucht braune Zigarillos. König spuckt auf den Boden, nippt an seiner MONSTER-Dose und sagt: »Wann gehtʼs los, Chef?«
»Geht gleich los«, sagt Faxe und trinkt an seinem Thermobecher.
Er stiefelt zu einem der Trucks und quatscht mit einem der beiden Techniker, die davor stehen.
Hinter uns kommt der Sprinter mit der Crew aus Coburg. Sie machen Lichthupe. Wir alle drehen uns um und gucken. Ich sehe die Coburg-Crew im Auto lachen. Nur Zange hebt die Hand zum Gruß. Steffi dreht sich noch eine. »Der soll das noch einmal machen mit dem Licht und ich schlachte ihn auf, ich schwörʼs«, sagt sie mit zugekniffenen, geblendeten Augen.
Faxe kommt zurück. »Geht los«, sagt er.

Wenn wir arbeiten, bewegen wir uns anders. Wir sind schneller. Jeder Handgriff sitzt. Fleißige Ameisen. Ein Scherz hier, ein Scherz da. Lachen.
Steffi sagt: »Die zwei Neuen, die Schwarzen, werden getrennt, weil das letztes Mal nicht geklappt hat. Die wurden zum Loaden eingeteilt und es war halt weng kalt draußen. Die haben nix verstanden, und die haben bloß uns gesehen, wie wir gelacht haben beim Einpacken drinnen. Die haben gedacht, wir haben sie für die Scheißarbeit eingeteilt. Dann sind die einfach abgehauen. Faxe hat die grad noch so gekriegt. Hat die richtig belämmert, dass die zurückkommen.«
Wir loaden den Truck aus. Schwarze, fette Cases auf Rädern. Wir rollen das Case die Rampe runter, Steffi links, ich rechts.
»Heute sind die getrennt, damit das nicht mehr vorkommt«, sagt sie.
Wir schieben das Case rein. Die Halle ist locker fünfzehn Meter hoch. Ein Techniker mit weißem PSA-Helm und Warnweste bückt sich, schaut auf den Sticker mit der Nummer des Cases und sagt: »Licht auf die linke Seite.«
Ich schaue quer durch die Halle. Am anderen Ende ist einer der beiden Flüchtlinge. Er schiebt mit König ein Case über die Rampe hoch auf die Bühne zum Backline-Stapel. Der Schwarze trägt seinen roten PSA-Helm nach Vorschrift. Aus unserer und der Coburg-Crew trägt von uns bis auf die Rigger niemand Helm.

Zange und The Rock kommen dazu und wir packen Trassen-Teile aus dem Truck und verschrauben sie mit fetten Stahlbolzen. Das dauert nicht lang.
Weil die Rigger noch nicht fertig sind, kommt Faxe zu uns und sagt: »ʼne Viertelstunde Raucherpause, ja?«
Er tippt auf sein Handgelenk.
Steffi hat schon den Filter zwischen den Lippen und das Paper mit dem DRUM-Tabak in der Hand. Über uns hängen die Rigger an ihren Seilen am Hallendach und machen die Motoranschlagpunkte für die Trassen. Ich höre Akkuschrauber und wie sie sich von einem Dachende zum anderen was zurufen. Irgendwas scheint nicht zu klappen.

Es ist hell draußen. Der Himmel eisblau. Im Sonnenschein ist es richtig warm. Der Sommer hat sich erst seit ein paar Wochen endgültig verabschiedet. Wir stehen in der Gruppe im Kreis, breitbeinig. Die Hände in den Hosentaschen, verschränkt oder an der Seite runterhängend. Alle mit den schwarzen T-Shirts unserer Firma. S3-Sicherheitsschuhe. Arbeitshosen. König hat ’ne Kippe in der Hand. Er geht ein Stück weg den Parkplatz entlang und telefoniert.
»Was isʼ mit ihm?«, frage ich.
Steffi schüttelt den Kopf. Sie raucht und schaut König nach. Ihr Gesicht ist spitz und ihre Lippen dünn. »Egal«, sagt sie.
»Mag der uns nicht mehr?«, sagt Zange.
Alle lachen.
Die Coburg-Crew hat einen alten Alki mit grauem Bart und Brille, die ihn intellektuell aussehen lässt. Er sagt: »Dem schmecken die Kippen da drüben besser.«
Alle lachen.
Der Student mit den Dreadlocks ist ruhig und schüchtern, deswegen wird er natürlich gestichelt. Er raucht eine Jin Ling-Zigarette. The Rock sagt: »Du weißt, dass die da fünfzig Prozent Fingernägel reintun?« The Rock sagt: »Bob Marley«, und tauft den Studenten damit. Alle lachen, der Student lächelt.
Ich erzähle: »Ich hab mal für Nena aufgebaut. Ihr Manager ist davor zu den Crewchiefs hin und hat befohlen, dass ihr niemand von uns ins Gesicht gucken darf. Keiner durfte der Schlampe ins Gesicht gucken, wenn die durch die Gänge gelaufen ist. Die ist verrückt geworden. Es hieß, man wird gefeuert, wenn man Nena ins Gesicht guckt. Dann isʼ die Alte raus auf die Bühne und hat erzählt, wie sehr sie sich freut, hier zu sein. Dass alle ihre Freunde sind. Drinnen war sie der kleine Hitler.«
Der alte, intellektuelle Alki sagt: »Bloß mit dem Schnauzbart unter den Achseln.«
Alle lachen.
König kommt zurück. »Gib mal Kippe«, sagt er zu mir und hält die Hand hin. Ich gebe ihm eine. »Danke«, sagt er und zündet sie sich an.
»Sergej«, sagt The Rock und lächelt.
König verdreht die Augen, mit der Kippe im Mund. Er atmet tief ein. »Jetzt nicht, Alter«, sagt er.
Er läuft wieder auf den Parkplatz und telefoniert. Seine Waden sind voller schwarzer Tribal-Tattoos.
Ich gehe in die Konzerthalle. Bei den Toiletten stelle ich mich ans Pissoir. Der Boden klebt. Graffiti an der Wand und auf dem Spiegel. Ein kleines, mit Filzstift gemaltes Hakenkreuz an der Decke. Aus eine der Kabinen höre ichʼs sniefen und räuspern. Ich schüttle ab, schnalle den Gürtel zu und bücke mich. Unter der Tür sehe ich zwei Paar S3-Sicherheitsschuhe. Die Tür geht auf und Messer-Pauli und einer der Coburg-Crew kommen raus. Ihre Augen sind glasig und sie schniefen. Keiner sagt was. Messer-Pauli ist einmal in die Psychiatrie gekommen, weil er in einem Zug eins seiner Messer rausgeholt hat. Eine Frau saß auf einem Zweier und wollte nicht auf den freien Platz durchrutschen. In seinem Rucksack haben die Bullen Crystal gefunden.

Faxe teilt Messer-Pauli, König und mich zum Licht ein. Das Licht steht links von der Bühne. Eine Technikerin kommt und sagt uns, wo die Moving Heads rankommen. Sie klebt die Stellen auf der Trasse mit Zumbe ab. Wir schieben ein Case vom Haufen vor zur Trasse. Messer-Pauli deckelt es ab. König und ich heben das Moving Head aus der Schaumstoffhülle und hängen es in die Trasse ein. Diese Lampen wiegen locker sechzig Kilo. Steffi rollt eine Kabelbox an und wir schließen das Licht an. Messer-Pauli klebt die Kabel mit Zumbe an die Trasse. Er kniet sich auf den Hallenboden. Ich sehe den kleinen Axthammer an seinem Gürtel. Daneben hat er locker fünf, sechs Schutzhüllen und leere Holster für Messer befestigt. Ich sehe den orangen Griff eines Mora-Messers.
König und ich gehen zurück zum Haufen und schieben das nächste Case zur Trasse.
Steffi bückt sich zu Messer-Pauli und sie reden was und lachen.
»Lass mal bald rauchen«, sagt König auf Russisch zu mir. Er schaut mich nicht an. »Und geh mir heute nicht auf den Sack«, sagt er.
»Ist ja gut«, sage ich. Ich hebe die Hände. »Zdes nikto ne khochet nikogo ubivat«, sage ich, was so viel heißt wie: »Niemand will hier jemanden umbringen.«

Gegen zwölf sind wir mit dem Licht fertig.
Die Techniker ziehen die Trassen mit den Motoren hoch an die Hallendecke.

Ich stehe auf dem Parkplatz vor der Halle und rauche mit zwei Muckie-Typen aus der Coburger Crew. Sie sind vielleicht Mitte dreißig und haben aufgedunsene, rote Köpfe. 3-mm-Cuts. Locker 130 Kilo. Auch ihre Haut ist rot. Der eine hat ein Rammstein-Tattoo auf dem Hals. Der andere hat eine so dunkle Solariumbräune, dass seine Haut fast aussieht wie die der Flüchtlinge. Sie unterhalten sich übers Stoffen. »Wenn deine Schnecke keinen gescheiten Arsch hat, baller ihr dreimal am Tag Sustanon in die Backen. Wenn sie nichʼ will, machʼs heimlich, damit du ’nen ordentlichen Arsch bekommst!«
Die beiden lachen.
Ein verdellter Volvo hält vor mir.
Steffi kurbelt das Fenster runter. »Wir fahren ins Hotel«, sagt sie, »willste mit, Russland?«
Bob Marley sitzt am Steuer.
Auf der Rückbank sitzen die beiden Afrikaner.

Das Hotel liegt im Industriegebiet. Die Straße ist breit und leer. Die Bäume auf dem Gehweg haben keine Blätter. Ich weiß nicht, wo wir sind. Thüringen? Betongraue, geduckte Gebäude mit Flachdächern. Ein JACK & JONES-Outlet mit abgeklebten Fensterscheiben und verwildertem Parkplatz. BURGER KING. Eine Reihe dreißig, vierzig Meter hoher, silberner Getreidesilos. Verrosteter Maschendrahtzaun.
Das Auto schaukelt bei jedem Schlagloch.
Bob Marley schaut zum Beifahrersitz.
Er fragt Steffi: »Warst du schon mal in Südostasien?«
Steffi murmelt irgendwas. Sie dreht sich eine Kippe. Bob Marley nickt. Dann schaut er wieder durch die Windschutzscheibe. An seinem Handgelenk hängen ein Dutzend vergilbter Festival-Bändchen.
Die beiden Afrikaner sitzen neben mir auf der Rückbank. Sie flüstern etwas in ihrer Sprache. Sie riechen nach Parfum. In diesem Augenblick fällt mir auf, dass sie unter den schwarzen Firmen-T-Shirts Hemden tragen; die dunklen Hemdkragen schauen unter dem Rundhals ihrer T-Shirts hervor. Mein Sitznachbar merkt, dass ich ihn ansehe, kurz treffen sich unsere Blicke und wir nicken einander zu.
»All good?«, sage ich und mache Daumen-hoch.
»Yes«, sagt er, lächelt und zeigt mir Daumen-hoch. »All good.«
Bob Marley dreht sich zur Rückbank, er sagt, langsam und laut: »Möchte jemand Asiatisch?«
Steffi wirft mir einen Blick zu, ich grinse und weiß, dass wir uns nachher darüber lustig machen werden, dass wir vor Lachen brüllen werden.

Im Hotelzimmer hängt das Schild einer durchgestrichenen Zigarette an der Wand, und direkt darunter steht auf unserer Kommode ein Aschenbecher des Hotels. Es ist ein Viererzimmer, zweimal Stockbett. Bob Marley sitzt unten auf dem Bett und dreht sich eine Zigarette. Ich sitze gegenüber oben. Die Wände sind vor Nikotin vergilbt.
Ich lege mich auf die Matratze und schließe die Augen. Ich höre, wie Bob Marley seine Zigarette anzündet und inhaliert. Er schaut sich irgendein YouTube-Video an. Ich wünschte, es wäre ein schäbiger Porno. Darüber könnte ich mit Steffi lachen. Steffi ist ein nebenan im Zweibettzimmer der Frauen.
Ich öffne die Augen, nehme mein Handy und schreibe ihr: »Was geht, Prinzessin und Königin der PMZ?«
»Wo ist eigentlich König?«, frage ich Bob Marley.
Er sieht zu mir hoch und zuckt mit den Schultern.
»Bläd«, sage ich, lege mich auf den Rücken und schließe die Augen.

Abends ist Party. Zange steht im Aufenthaltsraum hinter der Rezeption an einem Metallstehtisch, nippt an einem Heineken und zieht an seinem Zigarillo. Hinter ihm hängt das Nicht-Rauchen-Schild. Ein CD-Spieler steht neben Zange. Es läuft Michael Wendler. Zwei der Coburger Bodybuilder sitzen auf dem Sofa und quatschen. Auch der intellektuelle Alki und zwei der Rigger sind da. Morgen Vormittag bauen wir ab; bis dahin haben wir Zeit.
Im Nebenraum steht Messer-Pauli mit Kö an einem Billard-Tisch. Steffi steht neben ihm. Das gibt mir den Rest. Ich spüre es in diesem Augenblick. Ich wusste nicht, dass es so ist, aber ich drehe mich um, gehe an der Rezeption vorbei und vor die Tür nach draußen. Ich stecke mir eine Kippe an. Es ist Herbst. Vorhin hat es geregnet. Der Himmel ist grau und vor mir ist eine Bundesstraße. Es riecht nach Autoabgasen und Regen. Gegenüber ist der Parkplatz einer der vielen geduckten Industriekomplexe. Die Zäune sind hoch. Ich rauche. Da ist ein Druck auf meiner Brust; ich schaue auf meine Hände: Lange, dünne Finger habe ich und vom Zumbe-Kleben auf den Moving Heads sind meine Handflächen schwarz verschmiert.
Ich spüre, dass mir die Tränen kommen.
Du bist so dumm, sage ich. Du bist so ein Arschloch.
Ich wische mir mit dem Handrücken übers Auge.
Ziehe an der Zigarette.
»Hey«, sagt eine Mädchenstimme hinter mir.
Es ist Steffi. Sie kommt aus dem Hotel über den Gehsteig. »Was machst du?«
»Nichts«, sage ich und schaue wieder zur Straße.
Sie steht neben mir und atmet.
Eine lange Stille entsteht zwischen uns beiden.
Ich höre sie atmen.
Ich sage nichts.
»Kommst du wieder rein?«, sagt sie.
»Ich dachte, du willst Messer-Pauli heiraten«, sage ich. »Und zwischen ihm und seiner Mutter im Bett liegen.«
Sie schlägt mich gegen die Schulter.
Und zwar hart – der Schmerz brennt tief in den Muskel.
»Ich hab dir gesagt, du sollst deine Fresse halten, du Stück Scheiße«, sagt sie.
Ich sehe ihr ins Gesicht und sie lächelt nicht.
»Also, ich geh jetzt wieder rein«, sagt sie.
Ihre langen Pulliärmel hat sie über die Handknöchel gezogen.
»Kommst du auch?«
»Ihr wollt da drin heiraten, oder?«, sage ich. »Du und Messer-Pauli. Am Billardtisch.«
Ich grinse.
Sie geht in Richtung Eingang, dreht sich um und wirft mir einen ausdruckslosen Blick zu. Dann geht sie zurück ins Hotel.
Ich atme tief ein und lege meine Hände auf mein Knie, beuge mich mit der Zigarette im Mund.
Ich atme tief ein und aus.
Bei mir war das so. Wenn du zuhause geweint hast, warst du schwul. Die einzigen, die geheult haben, waren Kinder, Frauen und Schwule. Wenn du ein Mann warst, und geheult hast, dachten die Nachbarn im Genossenschaftsbau, du bist ein Schwuler. Und so wurdest du anschließend behandelt: Wie ein Schwuler. Bis du gezeigt hast, dass du kein Schwuler warst. Das heißt, bis du demjenigen, der meinte, dich heulen gesehen zu haben, die Fresse poliert hast.

»Wo ist König?«, sage ich und stehe an der Tür zum Billardraum. Steffi steht in der Ecke, mit einer Göller-Bierflasche in der Hand, und Messer-Pauli steht am Billardtisch.
»Weiß nicht«, sagt Messer-Pauli.
Ich schaue zu Steffi. »König sollte bei uns im Zimmer sein. Und wo ist Faxe?«
Ich ziehe mir am Getränkeautomaten ein Göller. Dann gehe ich wieder raus aus dem Hotel. Diese gottverdammte Welt. Ich schaue auf die Industriekomplexe, aus deren Fensterfassaden jetzt grelles LED-Licht strahlt. Der Himmel ist am Dämmern und die Straßenlaternen leuchten. Da ist immer dieses Fernweh, diese Sehnsucht, abzuhauen. Aber wohin? Was tun? Nach Südostasien wie Bob Marley? Ich atme tief ein und aus. Manchmal kann ich meine Beine gar nicht stillhalten. Aber ich weiß nicht, wohin, ich weiß nicht mal, was ich will. Ich weiß nur, dass ich alles, wie es jetzt ist, nicht will. Dass alles anders sein muss. Ich kann es nicht beschreiben.
Steffi steht wieder hinter mir, im Eingang. »Jetzt komm halt wieder rein«, sagt sie. »Sei doch nicht so verdammt dramatisch!«
Ich drehe mich um und sehe ihr ins Gesicht.
»Ja«, sage ich, »ja, ich komme.«
Als ich an ihr vorbei durch den Hoteleingang laufe, schaut sie mir ins Gesicht, in die Augen. Sie zieht die Augenbrauen hoch und hat die Arme verschränkt. Sie trägt einen viel zu weiten, schwarzen Pulli mit Rammstein-Emblem auf der Vorderseite. Löcher am Ärmel.
Sie atmet tief ein.
Sie sitzt neben Bob Marley auf der Couch. Die Pumper sind weg, oben oder bei den Autos. Die beiden afrikanischen Flüchtlinge stehen an einem Stehtisch, rauchen und haben Göller-Bierflaschen in der Hand. Der intellektuelle Alki steht am Stehtisch neben ihnen, lächelt, gestikuliert und erzählt ihnen etwas auf Englisch. Bob Marley schaut mich an und ich schaue ihn an und nicke. Seine Augen und sein Gesichtsausdruck sehen aus, als ob er geheult hätte, und ich frage mich, was Steffi jetzt neben ihm will. Sie sieht mich an, mit ihren großen, grünen Augen, aber ich gebe ihr die kalte Schulter und gehe wieder zu Zange an den Stehtisch und stoße mit ihm an. »Wusstest du, dass Hitler hier nur einmal in der Stadt war und mit faulen Eiern beworfen wurde, und dass Hitler dann gesagt hat, hier her wird er nie wieder kommen? Darauf sind die Leute hier bis heute stolz«, sagt er.
»Nee«, sage ich, drehe mich um und sehe zur Couch. Bob Marley sitzt noch auf ihr, aber Steffi ist aufgestanden und geht zur Tür. König steht in der Tür zum Aufenthaltsraum, hinter ihm Faxe. Beide sehen blass und müde aus. Ich sehe, dass Steffi mit König redet, dann umarmt sie ihn. Sie sieht ihn an, nickt und umarmt ihn wieder lange.
Steffi dreht sich um und ruft zu Zange: »Mach mal aus!«
Zange dreht Wendler leise.
König steht da und sagt: »Mein Vater ist heute gestorben. In Russland.«
Er sieht in den Raum und niemand sagt was. Die plötzliche Stille ist ohrenbetäubend, raumfüllend. Der Rauch von Zigaretten steigt auf. Ich schaue in den Raum und niemand bewegt sich; alle sitzen wie eingefroren da und sehen zu König. Sergej König steht in der Tür. Er schaut uns an, aber bewegt sich nicht. Er sagt nichts. Er steht gerade da; sein drahtiger Körper. Ich merke, wie dieser Moment sich ausdehnt; wie aus einer Sekunde eine Minute wird, wie jeder Bruchteil eine Bedeutung, eine Schwere bekommt. Meine Ohren knistern.
Aus irgendeinem Grund brechen die beiden Afrikaner diese Erstarrung, dieses Stillstehen der Zeit. Sie tragen noch ihre Arbeitsshirts mit den Hemden drunter. Sie gehen hinter ihrem Stehtisch herum, durch den Raum. König schaut zu ihnen. Sie gehen zu ihm. Der erste reicht ihm die Hand und neigt den Kopf leicht. Er sagt etwas auf Englisch, aber wir alle verstehen. Sein Landsmann reicht König auch die Hand und neigt den Kopf. Dann stehen plötzlich alle auf, vom Sofa und den Tischen, und einer nach den anderen geht zu König, reicht ihm die Hand und sagt: »Mein Beileid« – Zange, Rob, der intellektuelle Alki, die Coburger, die Studenten. Auch ich. Dann legt Faxe Sergej die Hand auf die Schulter und beide gehen zu einer Couch. Sergej sitzt da, das Gesicht in seiner Hand. Sein Körper bebt; er weint. Ich sehe sein verzogenes, rotes Gesicht. Im Hintergrund spielt Wendler.
Steffi stellt sich neben mich.
»Scheiße«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
Jemand stellt vor Sergej eine Flasche Bier auf den Tisch. Sergej heult, das Gesicht aufgedunsen, die kurzrasierten Haare, das Spinnennetz-Tattoo auf seiner Hand; da dringt etwas seltsam Weiches aus den Konturen seines Gesichts hervor, etwas, das ich bei ihm so noch nie gesehen habe. Es ist fast, als wird er ein anderer, als könne ich ihn nur noch schlecht erkennen.
»Er ist jetzt ganz allein«, sagt Steffi. »Er hat jetzt gar keinen mehr. Sein Vater war der letzte Verwandte, den er hatte. Jetzt hat er gar keinen mehr.«
»Ja«, sage ich.
Da spüre ich Steffis Finger an meiner Hand; ich schaue runter und sehe, wie ihre weißen, langen Finger meine berühren.
Ich sehe ihr ins Gesicht und sie sieht mir in die Augen.
»Lass uns woanders hingehen«, sagt sie und ihre Finger berühren meine nicht mehr.
»Ja«, sage ich.
Sie geht vor mir raus aus dem Aufenthaltsraum, weg von der Party.
Hinter der Rezeption, neben dem Treppenhaus, ist ein WC.
Steffi öffnet die Tür, schaut mir kurz in die Augen. Ich gehe hinter ihr rein und schließe die Tür ab. Wir beide hier drin: Das Klo, das Waschbecken. Die nackte LED-Lampe über uns. Steffi schaut mir in die Augen; viel direkter, als sie es sonst macht. Da ist etwas Fragendes an ihrem Blick; als ob die eine große Frage, die sie sich in ihrem Leben stellt, die ihr die Antwort auf alles gibt, in ihrem Blick wäre, und ihr Blick meinen Blick danach absucht. Ihre Wangen sind blass. Jetzt, wo ich ihr so nahe bin, fallen mir ihre leichten Sommersprossen auf. Ich küsse sie auf den Mund. Ihre Lippen sind so weich. Sie legt ihre Arme um mich. Wir küssen uns auf den Mund, schauen uns in die Augen.
»Hallo«, flüstere ich.
»Hallo«, flüstert sie.
Dann küssen wir uns mit Zunge. Sie schmeckt nach Aschenbecher, Wrigleys-Pfefferminzkaugummi und Bier. Ich spüre ihre Arme auf meinen Schultern, ihre Hände an meinem Kopf. Ich berühre die weiche Haut ihres Bauches, unter ihrem Shirt.
»Warte«, sagt Steffi.
Sie atmet tief ein. Sie schaut zum Boden.
Dann schließt sie die Augen.
Ihr Gesicht ist rot.
»Scheiße«, sagt sie und sieht mich an: Ihre Augen sind tränengefüllt.
»Was denn?«, sage ich.
Da steigt etwas in ihrem Gesicht auf; das gleiche Weiche, das aus Sergejs Konturen hervorgestiegen ist. Ihr Gesicht verzieht sich – ihr Kinn zuckt. Tränen laufen ihr aus den Augen. Sie weint.
Sie streicht sich mit dem Zeigefinger über eine Braue, den Blick zum Boden. Ihre schnappartige Atmung.
Auch mir kommen die Tränen.
Meine Augen werden heiß, ich bekomme einen Kloß im Hals.
Ich weine.
»Scheiße«, sagt Steffi.
Ich sehe ihr in die Augen.
»Ja«, sage ich und lache.
Mir läuft eine Träne die Backe herunter.
Das Weiche ist jetzt auch in mir; es zieht sich in mir zusammen. Ich weine.
Ich lache und wir schauen uns in die Augen.
»Scheiße«, sagt Steffi und schlägt mich gegen die Schulter, streicht sich über das Auge. »Du Arschloch.«
»Was denn?«, sage ich.
Meine Hose ist offen, ihr Top ist verrutscht.
Steffi wischt sich die Tränen aus den Augen, entriegelt die Tür, quetscht sich an mir vorbei und geht raus.

Aus irgendeinem Grund ist mir diese eine Sache im Gedächtnis geblieben: Wie sie und ich in diesem WC stehen; wie wir voreinander stehen, ganz nah beieinander; wie ich die Wärme ihrer Haut spürte, ihren Geruch roch, unser Atmen und Wimmern hörte, mir die Augen zuhielt; unsere Küsse und das Geräusch unseres Weinens; ich weiß nicht, warum ich an diesen kleinen Raum denken muss, an dieses seltsame, kindliche Gefühl aus seiner Rolle zu fallen und zu Weinen; da lag etwas Vorsprachliches zwischen uns, etwas Unaussprechliches, eine tiefe Wahrheit, die niemand von uns beiden auch nur denken wollte; eine Sprachlosigkeit und ein Schreck, wie die Dinge wirklich waren; als ob sie und ich in diesen wenigen Minuten die gewesen wären, die wir waren; rein, unschuldig; verletzt, traurig; ich weiß nicht, warum ich immer wieder an diese Szene denke, wenn ich nachts nicht schlafen kann, wenn meine Frau im Bett neben mir liegt und geräuschlos atmet, wenn ich bei Rot an der Ampel stehe, ich auf Job mit Arbeitshandschuhen am Förderband in den hohen, leuchtstoffrohrgrellen Hallen stehe; ich weiß es nicht.
Das ist etwas, hinter das ich nicht komme, das ich nicht begreife.